RECHTSEXTREMISMUS

„…dem Volk eine Heimat zu geben, indem jeder Deutsche Teil von etwas Großem war…“: Zur Bedeutung der Völkischen Bewegung für den heutigen Neonazismus

Seit Ende April 2022 ist im Netz ein gut vierminütiges Video von der Rede eines baden-württembergischen Neonazis[1] abrufbar. Laut Videotitel wurde diese am 23. April 2022 auf einem rechtsextremistischen „Fackelmarsch“ im rheinland-pfälzischen Ingelheim gehalten. Es handelt sich bei dem Redner um einen jungen Neonazi aus Mannheim, der bisher vorwiegend im Zusammenhang mit der neonazistischen „Neue Stärke Partei“[2] in Erscheinung getreten war. Überraschend sind seine Ausführungen zum „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ (DVSTB) und die positive Bezugnahme auf die Völkische Bewegung des Kaiserreiches und der Weimarer Republik.

Der rechtsextremistische „Fackelmarsch“ in Ingelheim am 23. April 2022 fand 103 Jahre nach der militärischen Niederschlagung der bayerischen Räterepublik durch Freikorps- und Reichswehrverbände statt. Auf dieses historische Ereignis bezog sich auch der Mannheimer Redner, der als Vertreter der neonazistischen „Kameradschaft Rheinhessen“ auftrat, und machte es zum Aufhänger seiner Rede. Dabei war er bemüht, sich und seine „Kameraden“ in die Tradition der damaligen Freikorps zu stellen, gleichzeitig die heutige Bundesrepublik mit der von ihm zutiefst abgelehnten Weimarer Republik zu parallelisieren und damit in seinen Augen abzuwerten. So sagte er schon kurz nach Beginn seiner Rede: „Denn im April 1919 formierte sich der deutsche Widerstand erneut und er kämpft bis heute.“[3] Gleichzeitig machte er aus seiner fundamentalen Ablehnung nicht nur der bayerischen Räterepublik, sondern auch der demokratischen Weimarer Republik und der heutigen Bundesrepublik Deutschland keinen Hehl: 

„Diverse Gruppen und andere nationale Freiheitsbewegungen schlossen sich zusammen, um diejenigen abzustrafen, die an der Misere der damaligen Republik, der [sic!] Missstände an Volk und Heimat verantwortlich waren, und genau dieselben, die heute unsere etablierte Politik bilden. Wie ihr schon sehen könnt, schließt sich der Kreis erneut. Die sogenannten Novemberverbrecher, die den Weg frei machten für Fremdbestimmung und Unterdrückung des Freiheitswillen [sic!] aller Deutschen.“ 

Nun ist die fundamentale Ablehnung der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland für heutige deutsche Neonazis nicht ungewöhnlich, sondern eher konstitutiv. Auch dass man sich zur Diffamierung damaliger (und zuweilen auch heutiger) Demokraten einer zeitgenössischen rechtsextremistischen Terminologie („Novemberverbrecher“) bedient, kommt nicht unerwartet. Doch dass sich der Redner zusätzlich auf eine völkische Organisation der frühen Weimarer Republik bezieht, die heute in der breiten Öffentlichkeit fast völlig vergessen ist, überrascht dann doch. So heißt es schon bald nach Beginn der Rede: 

„Mehrere Blutzeugen unserer deutschen Geschichte rückten genau am heutigen Datum im Jahre 1919 mit hunderten Kameraden in Richtung München vor, um dem Volk die Freiheit zu geben. So gründete sich der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, der sich wie auch wir heute die Aufgabe setzte, dem Volk eine Heimat zu geben, indem jeder Deutsche Teil von etwas Großem war, etwas Größeres als eine ausgebeutete Figur in einem fremdgesteuerten Staat.“

 Die Gründung des DVSTB erfolgte zwar in Bayern, aber bereits Mitte Februar 1919 und hatte daher mit der Niederschlagung der bayerischen Räterepublik ursächlich nichts zu tun. Dennoch stellt sich die Frage: Wie ist die offenbar traditionsstiftend gemeinte Berufung eines heutigen deutschen Neonazis auf den DVSTB einzuordnen? Was wird damit bezweckt?[4]

Was war der DVSTB?

Der DVSTB war die größte und bedeutendste völkische Organisation der frühen Weimarer Republik. Er wurde Mitte Februar 1919 in Bamberg auf Initiative des "Alldeutschen Verbandes" (ADV) als Antisemitenbund gegründet (bis Oktober 1919 unter dem Namen "Deutscher Schutz- und Trutzbund"). In den folgenden Jahren stand ein fanatischer Rassenantisemitismus im Zentrum der Bundespropaganda. Darüber hinaus widmete sich der Bund von Anfang an dem gesamten Spektrum völkischer Ideologie. So predigte er einen ebenso fanatischen Rassismus, der sich nicht nur gegen Juden, sondern z. B. auch gegen afrikanische und asiatische Besatzungssoldaten im Rheinland richtete. Außerdem sagte der DVSTB – teils wiederum auf der Basis antisemitischer Argumentationsmuster – der Weimarer Demokratie und deren Repräsentanten kompromisslos den Kampf an. 

Der DVSTB steigerte seine Bedeutung und Mitgliederzahl u. a. dadurch entscheidend, dass er zu seinen Gunsten mit mehreren deutschvölkischen Verbänden fusionierte. So verdankte er seinen endgültigen Namen und 9.000 weitere Mitglieder dem Zusammenschluss mit dem "Deutschvölkischen Bund" (DVB), der Nachfolgeorganisation der "Deutschvölkischen Partei", am 1. Oktober 1919. 

Auf seinem Höhepunkt im Sommer 1922 verfügte der DVSTB über ein deutschlandweites Netz von ca. 600 Ortsgruppen. Mit der Ausdehnung des DVSTB in alle Reichsgebiete ging ein ebenso rasanter Anstieg seiner Mitgliederzahlen einher. Im Sommer 1922 dürfte er wissenschaftlichen Schätzungen zufolge zwischen 150.000 und 180.000 Mitglieder stark gewesen sein. Zum Vergleich: Der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ (NSDAP) gehörten Ende Januar 1922 nur etwas über 6.000 Personen an. 

Der DVSTB wurde im Sommer 1922 in weiten Teilen des damaligen Deutschen Reiches auf Grundlage der beiden Notverordnungen zum Schutze der Republik vom 26. und 29. Juni 1922 sowie des entsprechenden Gesetzes vom 21. Juli 1922 verboten. Auslöser für diese Entwicklung war der Mord an Reichsaußenminister Walther Rathenau (1867-1922) am 24. Juni 1922 in Berlin, in den mehrere DVSTB-Mitglieder als Täter verwickelt waren. Nur in Bayern, Württemberg, Anhalt und Mecklenburg-Strelitz wurde kein Verbot ausgesprochen. 

Die Bedeutung der Völkischen Bewegung im Allgemeinen und des DVSTB im Speziellen für den historischen Nationalsozialismus

 Die Völkische Bewegung des wilhelminischen Kaiserreiches und der Weimarer Republik zählt zu den wichtigsten Vorgängerphänomenen, Wegbereitern und Ideologielieferanten des historischen Nationalsozialismus (NS). Zu ihr stand der historische NS in einem besonders engen organisatorischen, personellen wie ideologischen Traditions- und Kontinuitätsverhältnis. Dies gilt nicht zuletzt für den DVSTB als die größte und bedeutendste völkische Organisation der frühen Weimarer Republik. Er besaß große Bedeutung „als Propagandist, Förderer und Anhängerreservoir für die NSDAP“, „als Wegbereiter“ des historischen NS und als „‚Schrittmacher für das Dritte Reich’“[5]

Nicht zuletzt aufgrund der ideologischen Übereinstimmungen zwischen den beiden Organisationen traten spätestens ab 1922/23 viele (ehemalige) DVSTB-Mitglieder der NSDAP bei. Viele Nationalsozialisten, die später in der NSDAP und nach 1933 im Staatsapparat hohe Ämter bekleiden sollten, waren aus dem DVSTB hervorgegangen und hatten dort ihre „völkische Grundausbildung“ erhalten. 

Fazit: Bekenntnisse zur Völkischen Bewegung als verschleierter Neonazismus

Berücksichtigt man, wie wichtig die Völkische Bewegung des Kaiserreiches und der Weimarer Republik für den historischen NS waren, so sind in der Konsequenz Bekenntnisse zu dieser Bewegung (oder konkret zu einer ihrer wichtigsten Organisationen, dem DVSTB) im aktuellen deutschen Rechtsextremismus – zumindest in den meisten Fällen – als eine verschleierte Form des Neonazismus zu bewerten. Eine Verschleierung liegt vor, da dem Publikum zwar ein wesensverwandtes bis wesensgleiches Vorgängerphänomen des historischen NS, aber eben nicht dieser selbst als vorbildlich präsentiert wird. Häufig sensible, zu einem realistischen Verständnis der Völkischen Bewegung eigentlich unverzichtbare Fakten wie zum Beispiel deren viele Traditions- und Kontinuitätslinien und Kongruenzen zum historischen NS werden gleichzeitig unterschlagen oder doch zumindest relativiert. Dabei wird die Unwissenheit innerhalb der bundesdeutschen Öffentlichkeit über diese Thematik offenbar bewusst mit einkalkuliert und ausgenutzt.

Diesen Weg eines verschleierten Bekenntnisses zum historischen NS wählte der Mannheimer Neonazi am 23. April 2022 in Ingelheim.



[1] Es sind diejenigen rechtsextremistischen Einzelpersonen, Organisationen oder auch Medien als Neonazis bzw. neonazistisch zu kategorisieren, die ein direktes oder indirektes Bekenntnis zu Ideologie, Organisationen, Protagonisten oder aber auch wesensverwandten bis wesensgleichen Vorgängerphänomenen des historischen NS erkennen lassen und in letzter Konsequenz auf die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zugunsten eines totalitären Führerstaates nach dem Vorbild des „Dritten Reiches“ ausgerichtet sind.
[2] Veröffentlichung des LfV BW zur „Neue Stärke Partei“ vom 28.04.2022, Verfassungsschutz BW - "Neue Stärke Partei" (verfassungsschutz-bw.de) 
[3] Wiedergabe dieses und der folgenden Redezitate nach dem akustischen Verständnis.
[4] Vgl. zum Folgenden teils wörtlich: Walter Jung, Positive Rekurse auf die Völkische Bewegung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik innerhalb des aktuellen deutschen Rechtsextremismus. Über einen Aspekt rechtsextremistischer Traditionspflege und seine historisch-ideologischen Hintergründe, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2011/2012 (I), Brühl/Rheinland 2012, S. 134-179. Ders., Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund (DVSTB), 1919-1924/35, publiziert am 02.11.2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: (30.06.2022)
[5] Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes 1919-1923, Hamburg 1970, S. 283-330, Zitate S. 285, 304 und 330.

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