Rechtsextremismus

Zehn Jahre nach der Enttarnung des NSU: eine rechtsterroristische Verbrechensserie und ihre Konsequenzen für den Verfassungsschutz Baden-Württemberg

Im November 2021 jährt sich die (Selbst-)Enttarnung des rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) zum zehnten Mal. Die Verfassungsschutzbehörden spielten bei dieser Enttarnung keine und somit eine unrühmliche Rolle: Weder war ihnen bekannt, dass die lange Zeit als „Döner-Morde“ bezeichneten Taten von deutschen Rechtsterroristen begangen worden waren, noch gingen sie seinerzeit davon aus, dass Rechtsterrorismus in Deutschland überhaupt existierte. Nicht ohne Grund war der Verfassungsschutz in der Folge massiver öffentlicher Kritik aus Medien, Wissenschaft und dem politischen Raum ausgesetzt. Zwar stellten die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse von Bund und Land in Bezug auf das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (LfV) kein konkretes Fehlverhalten fest. Dennoch hat sich das LfV in umfassender Weise den Lehren gestellt, die sich aus dem NSU-Komplex ergeben haben: Strukturen und Arbeitsabläufe wurden kritisch überprüft und zahlreiche Maßnahmen zur internen Reform ergriffen.

 1. Ein kurzer historischer Abriss

 

Die drei Jenaer Neonazis Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate ZSCHÄPE tauchten im Januar 1998 ab, um sich einer Strafverfolgung wegen früherer Straftaten zu entziehen. Nach dem Untertauchen bildeten sie den selbsternannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ und begingen bis 2011 in mehreren Bundesländern zahlreiche schwere Straftaten. Dazu zählten Morde an neun Mitbürgern türkischer und griechischer Herkunft, zwei Sprengstoffanschläge in Köln sowie ein Mordanschlag in Heilbronn. Bei diesem Anschlag wurden am 25. April 2007 eine Polizeibeamtin getötet und ihr Streifenkollege schwer verletzt. Darüber hinaus wurden dem NSU im Nachhinein 15 bewaffnete Raubüberfälle zugeschrieben.

 

Am 4. November 2011 überfielen Böhnhardt und Mundlos eine Sparkasse im thüringischen Eisenach. Als sie danach gestellt und verhaftet zu werden drohten, nahmen sie sich das Leben. Nachdem ZSCHÄPE vom Tod ihrer beiden Komplizen erfahren hatte, setzte sie die gemeinsame Wohnung im sächsischen Zwickau in Brand und flüchtete. Auf ihrer mehrtägigen Flucht durch Deutschland versandte sie an verschiedene Adressen NSU-Bekennervideos. Am 8. November 2011 stellte sie sich in Jena der Polizei.

 

Im Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht (OLG) München der Prozess gegen ZSCHÄPE und vier Unterstützer des NSU. Am 11. Juli 2018 verkündete das Gericht die Urteile: ZSCHÄPE wurde wegen zehnfachen Mordes, mehrfachen versuchten Mordes, mehrerer Raubüberfälle, eines versuchten Mordes durch schwere Brandstiftung sowie wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Zudem stellte das OLG die besondere Schwere der Schuld fest, verzichtete jedoch auf die Anordnung einer anschließenden Sicherungsverwahrung. Die anderen Angeklagten wurden wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu Freiheitsstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren verurteilt. Der BGH verwarf am 19. August 2021 die Revisionen ZSCHÄPEs und zweier Unterstützer. Ihre Verurteilung ist damit rechtskräftig. Über die Revision eines dritten Beteiligten ist noch nicht entschieden. Der vierte angeklagte NSU-Unterstützer hatte seine Rechtsmittel bereits 2019 zurückgezogen.



 2. Maßnahmen des LfV seit dem NSU

 

Schon vor November 2011 wurde die Beobachtung extremistischer Phänomene, auch konkret des Rechtsextremismus, beim baden-württembergischen Verfassungsschutz permanent evaluiert und reformiert. Ziel war es stets, die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben zu verbessern. Die NSU-Erfahrung machte jedoch weitergehenden Handlungsbedarf im Verfassungsschutzverbund überdeutlich.

 

Die in der Folge ergriffenen Maßnahmen lassen sich in drei Bereiche unterteilen:

  • Intensivierung der Zusammenarbeit mit Behörden außerhalb des Verfassungsschutzverbunds (vor allem Polizei und Justiz),
  • aktive Unterstützung des Reformprozesses im Verfassungsschutzverbund sowie
  • personelle und strukturelle Maßnahmen zur Neuausrichtung der Rechtsextremismus-Beobachtung im LfV.

 

Hinzu kommt, dass seit 2015 das neu geschaffene Parlamentarische Kontrollgremium des Landtags von Baden-Württemberg (PKG) mindestens vierteljährlich über die Tätigkeit des Landesamts und seine Durchführung von G10-Maßnahmen (Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs) informiert wird. Das PKG erstattet dem Landtag regelmäßig Bericht über seine Kontrolltätigkeit.

 

Im Folgenden eine Auswahl von Maßnahmen aus allen drei Bereichen:

 

a)       Intensivierung der Zusammenarbeit mit Behörden außerhalb des Verfassungsschutzverbunds (Polizei, Justiz, Waffenbehörden)

 

  • Ende 2011 wurde das Gemeinsame Abwehrzentrum Rechtsextremismus (GAR) von Verfassungsschutz, Polizei und Generalbundesanwalt geschaffen und im Dezember 2012 in Gemeinsames Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum“ (GETZ) umbenannt. Das LfV beteiligt sich aktiv am GETZ in Köln durch die Entsendung von Verbindungsbeamten und – anlassbezogen – von zusätzlichen Mitarbeitenden der Fachbereiche.

 

  • Im Februar 2012 richteten LfV und Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg die Gemeinsame Informations- und Analysestelle (GIAS) für den Bereich der politisch motivierten Kriminalität Rechts ein; im Oktober 2012 erfolgte die Ausweitung auf alle anderen Extremismusbereiche und den Bereich Spionage/Proliferation. Zweck des GIAS ist ein intensiverer gegenseitiger Informationsaustausch. Dazu finden regelmäßige Treffen von LKA- und LfV-Vertretern statt.

 

  • Ebenfalls 2012 nahmen Verfassungsschutz und Polizei die bundesweite Rechtsextremismusdatei (RED) in Betrieb. Das LfV beteiligt sich bei der Befüllung sowie der Datenbestandspflege.

 

  • Auch an der Fortschreibung eines Leitfadens zur Zusammenarbeit zwischen Verfassungsschutz und Polizei war das LfV maßgeblich beteiligt.

 

  • Das LfV wirkte 2012 an einer umfänglichen Überprüfung des Waffenbesitzes bei baden-württembergischen Rechtsextremisten mit. Mittlerweile finden regelmäßige Abgleiche mit dem Nationalen Waffenregister statt. Außerdem müssen die Waffenbehörden seit Februar 2020 in jedem Einzelfall bei der Überprüfung der Zuverlässigkeit von Personen nach dem Waffen-, Sprengstoff- und Jagdrecht bei den Verfassungsschutzbehörden anfragen, ob dort Informationen über eine extremistische Ausrichtung der Person vorliegen. Durch diese bundesrechtlich eingeführte Regelanfrage soll sichergestellt werden, dass Extremisten über keinen legalen Waffenbesitz verfügen. Das LfV wirkt in diesem Verfahren durch die Übermittlung der vorliegenden Erkenntnisse zu der Person mit.

 

  • 2013 bis 2017 unterstützte das LfV die Antragsteller im zweiten Verbotsverfahren gegen die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) intensiv durch entsprechende Zuarbeiten. Seit Ende des Verbotsverfahrens leistet das Amt fachliche Unterstützung beim Antrag von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, die NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen.

 

  • 2016 entstand eine von der Justiz Baden-Württemberg und dem LfV erarbeitete „Handreichung zur Informationsübermittlung in der Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz“. Diese Handreichung war Vorbild für eine bundesweite Anwendung.

 

b)       Aktive Unterstützung des Reformprozesses im Verfassungsschutzverbund

 

  • Unter maßgeblicher Beteiligung des LfV wurden bundesweit einheitliche Standards in der Anwerbung, Führung und Kontrolle von Vertrauenspersonen („V-Leuten“, VP) geschaffen und Speicherkriterien für die bundesweite VP-Datei erarbeitet. Mit dem Gesetz zur Stärkung der parlamentarischen Kontrolle des Verfassungsschutzes (Drs. 15/7147) von 2015 konkretisierte der Landtag von Baden-Württemberg die bisherige Regelung zum Einsatz von VPen und nahm eine detaillierte Regelung in das Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) auf.

 

  • Seit dessen Gründung 2012 beteiligen sich wissenschaftliche Referentinnen und Referenten des LfV am Arbeitskreis (AK) „Vergleichende Extremismusforschung“ an der Akademie für Verfassungsschutz (AfV; damals noch „Schule für Verfassungsschutz“) in Swisttal-Heimerzheim/Nordrhein-Westfalen. Die Gründung des Arbeitskreises war nicht zuletzt eine Reaktion auf die analytischen Schwächen, die im VS-Verbund im Zusammenhang mit dem NSU zutage getreten waren. Der AK verfolgt u. a. den Zweck, die im VS-Verbund tätigen Wissenschaftler besser zu vernetzen und den interdisziplinären Horizont über den „Tellerrand“ des jeweiligen Fachbereichs hinaus zu erweitern. Letztlich streben die Beteiligten die Verbesserung der Analysefähigkeiten innerhalb des Verfassungsschutzbunds an. Diese Forderung war nach der Enttarnung des NSU von verschiedenen Seiten mit Nachdruck erhoben worden.

 

  • Allgemein unterstützt das LfV die AfV bei der Aus- und Fortbildung von Mitarbeitenden aus ganz Deutschland durch die Entsendung von Gastdozenten zu verschiedenen Themenbereichen.

 

  • 2012 und 2013 wurde auch im LfV das neue bundesweite Nachrichtendienstliche Informationssystem und Wissensnetz (NADIS-WN) eingeführt. Mit seinen verbesserten Analyse- und Recherchemöglichkeiten ermöglicht NADIS-WN einen einfacheren Informationsaustausch im VS-Verbund sowie eine bessere Abbildung von Personennetzwerken, Reisebewegungen und Wohnsitzwechseln.

 

  • 2014 zunächst als Pilot und ab 2015 als regelmäßiger Lehrgang konzipiert, wurde die modulare Zusatzausbildung an der AfV für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit abgeschlossener Berufsausbildung implementiert. Dies vor allem, da eine Standardisierung der Ausbildung im Verfassungsschutzverbund erforderlich war. Seitdem nehmen alle neu eingestellten Mitarbeitenden des LfV an diesem verpflichtenden Lehrgang teil. Eine Modifizierung der modularen Zusatzausbildung fand 2016 und 2021 statt.

 

c)       Personelle und strukturelle Maßnahmen zur Neuausrichtung der Rechtsextremismusbeobachtung im LfV

 

  • Schon bald nach November 2011 hat das LfV die Bearbeitung des Rechtsterrorismus und des gewaltorientierten rechtsextremistischen Spektrums insgesamt priorisiert und intensiviert.

 

  • 2012 wurde eine Projektgruppe (PG) „NSU“ zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes und seiner Bezüge nach Baden-Württemberg eingerichtet. Die PG „NSU“ leistete Zuarbeiten zu diversen Untersuchungsausschüssen, Expertenkommissionen und der Enquetekommission des Landtags. Die PG „NSU“ wurde 2018 aufgelöst.

 

  • Unter anderem die NSU-Erfahrung führte nach 2011 zu einem Zuwachs an Aufgaben und einem steigenden Arbeitsaufkommen. Eine Folge war ein sukzessiver deutlicher Personalzuwachs im Fachbereich „Rechtsextremismus und -terrorismus“. Im Zuge dessen wurden auch zahlreiche neue Kolleginnen und Kollegen mit fachwissenschaftlicher Qualifikation eingestellt.

 

  • Bereits 2013 erfolgte der Aufbau eines Arbeitsgebiets „Aufklärung und Prävention“ im Bereich Rechtsextremismus, um das Informations- und Beratungsangebot des LfV zu erweitern und staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure zu unterstützen. Ein besonderer Fokus liegt auf der Aus- und Fortbildung von Multiplikatoren in Polizei, Justiz und Kommunen.

 

  • 2017 richtete das LfV ein zusätzliches Auswertungsreferat „Islamfeindliche und rechtsextremistische Bestrebungen, Reichsbürger und Selbstverwalter, Scientology-Organisation“ ein, um den gestiegenen sicherheitspolitischen Anforderungen Rechnung zu tragen. Die Bearbeitung des gewaltorientierten Rechtsextremismus und -terrorismus wurde im bisherigen Analysereferat konzentriert.

 

3. Künftige Herausforderungen

 

Zum 1. Oktober 2020 wurde im Zuge des Sonderprogramms Rechtsextremismus der Landesregierung eine eigenständige Abteilung „Rechtsextremismus und -terrorismus, Reichsbürger und Selbstverwalter“ im LfV eingerichtet. Diese soll die neuen Aufgaben und künftigen Herausforderungen besser bewältigen. Der Phänomenbereich „Linksextremismus und -terrorismus“ wird seither in der neuen Abteilung „Links-/Ausländerextremismus und -terrorismus“ bearbeitet.

 

Ebenfalls zum 1. Oktober 2020 wurde ein neues Referat „Operative Informationserhebung im Internet“ geschaffen. Es dient insbesondere zur Früherkennung von Radikalisierungen bei Einzelpersonen und militanten Kleingruppen, die im virtuellen Raum geschehen. Dies geschah vor allem vor dem Hintergrund, dass das Internet den Rechtsextremismus geradezu revolutioniert hat und eine Art „virtueller Rechtsextremismus“ entstanden ist. In jüngerer Zeit sind insgesamt eine verstärkte Individualisierung und Anonymisierung bei gleichzeitiger kommunikativer Globalisierung des Rechtsextremismus zu beobachten.

 

Bereits 2014 hatte das LfV vor dem Hintergrund der NSU-Erfahrung eine Konzeption zur personenbezogenen Aufklärung erarbeitet. Aufgrund der Erkenntnis, dass in Teilen des baden-württembergischen Rechtsextremismus festere Organisationsstrukturen in den letzten Jahren sukzessive an Bedeutung verloren haben, wurde im November 2020 der Arbeitsbereich „Personenbezogene Auswertung“ ausgebaut. Seine Aufgabe ist es nicht zuletzt, rechtsextremistische Personen mit einem hohen Radikalisierungspotential zu identifizieren, zu kategorisieren und intensiv zu beobachten.

Seit dem 1. Oktober 2020 existiert ein eigener Verbindungsbeamter der Abteilung „Rechtsextremismus und -terrorismus, Reichsbürger und Selbstverwalter“ beim LKA Baden-Württemberg. Damit wurde, wie bereits nach den islamistischen Anschlägen von Madrid (2004) und London (2005), nun auch für den zweiten Schwerpunktbereich des LfV ein Verbindungsbeamter beim LKA installiert.

 

4. Fazit

 

Der NSU war ein Beweis dafür, dass im harten Kern des deutschen Rechtsextremismus nach wie vor ein ideologisch motivierter Hass auf diverse Feindbilder existiert. Ein solcher Hass kann und wird immer wieder Vertreter dieser Szene in Mordabsichten und Rechtsterrorismus treiben. Diese Erkenntnis darf auch zehn Jahre nach Ende des NSU nicht verblassen.

Dies gilt umso mehr angesichts diverser rechtsextremistisch motivierter Mordtaten auch nach dem Jahr 2011, wie der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni 2019 oder des Angriffs auf eine Synagoge und einen Döner-Imbiss mit zwei Todesopfern am 9. Oktober 2019 in Halle/Saale.

 

Aufgabe des deutschen Verfassungsschutzes als Frühwarnsystem ist es, dabei mitzuhelfen, das Risiko für weitere solche Taten möglichst klein zu halten und die Radikalisierung potenzieller Täter frühzeitig zu erkennen. Um dieser Aufgabe auch unter sich permanent verändernden Rahmenbedingungen gerecht zu werden, wird es auch in Zukunft immer neuer Reformschritte bedürfen ‑ sowohl innerhalb des Verfassungsschutzes wie auch bei der Zusammenarbeit mit anderen Sicherheitsbehörden sowie allen der Bekämpfung des Rechtsextremismus verpflichteten Stellen. Dieser Herausforderung fühlt sich das LfV verpflichtet.

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