4. Die Rolle von Verschwörungsmythen
(1) Bedeutung und Gefahrenpotenzial
Verschwörungsmythen - oder im Falle einer kompletten Vereinnahmung der eigenen Weltsicht - Verschwörungsideologien finden sich in nahezu allen extremistischen Phänomenbereichen wieder. Teilweise bilden sie wie bei „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ sogar das ideologische Grundgerüst der Szene. Dement-sprechend war die Bewertung von Verschwörungsmythen schon immer ein zentraler Bestandteil der Arbeit des Verfassungsschutzes. In ihnen liegt ein hohes Gefahrenpotenzial, das insbesondere aus den propagierten Feindbildern resultiert. Denn diese müssen aus Sicht der Anhänger der Verschwörungsmythen bekämpft werden. Sie konstruieren eine permanente „Notwehrsituation“, wodurch eine vermeintlich notwendige „Gegenwehr“ in ihren Augen legitim wird. Diese an-gebliche „Notwehr“ kann bis zur tödlichen Gewaltanwendung reichen: Die rechtsextremistischen Attentate von Christchurch (Neuseeland), El Paso (USA) und Halle aus dem Jahr 2019 sind erschreckende Beispiele hierfür. In den Manifesten bzw. Begründungen der Täter tauchten stets prominente Verschwörungsideologien wie der bereits erwähnte „Große Austausch“ oder die „jüdische Weltverschwörung“ auf.
(2) Gründe für die besondere Anschlussfähigkeit von Reichsbürgerideologien beim
Corona-Protestgeschehen
„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind äußerst anfällig für andere Verschwö-rungsmythen, die ein ebenso absolutes Weltbild zeichnen. Ein Grund dafür könn-te sein, dass sie bereit sind, auch sehr abseitige Auslegungen und Verkürzungen juristischer und historischer Sachverhalte als uneingeschränkte Tatsachen anzunehmen. Solche abseitigen Erzählungen finden sich nun auch in Teilen des Anti-Corona-Versammlungsgeschehens, wenn auch auf anderer Grundlage. Über-schneidungen ergeben sich aber viele, insbesondere an den Stellen, an denen dem Staat in der Einschränkung der Grundrechte bösartige Motive unterstellt werden. Auch der Glaube, der Staat oder die Regierung hätten sich die Pandemie in Gänze ausgedacht, um die Bevölkerung zu unterdrücken, ist auf den derzeitigen Protesten weit verbreitet.
Die Agitation gegen diesen Staat vereint zahlreiche „Querdenken“-Teilnehmer mit Reichsbürgern und ist gewissermaßen der „kleinste gemeinsame Nenner“. Ein weiterer Anschlusspunkt: auch „Reichsbürger“ machen die Bundesrepublik und ihre Vertreter oftmals verächtlich und leugnen staatliche Legitimation. Entlang dieser Anknüpfungspunkte versucht die Szene, ihren Einfluss bei den nichtextremistischen Demonstranten stetig zu vergrößern und die durch die Proteste entstandene hohe Reichweite für sich zu nutzen.
(3) Die besondere Gefährlichkeit von „QAnon“
Unter den vielen teils abstrusen Verschwörungsideologien schätzen wir „QAnon“ aufgrund ihres antisemitischen
Narrativs sowie ihrer grundsätzlichen Staatsfeindlichkeit als äußerst gefährlich ein. Wie angedeutet schafft
„QAnon“ Feindbilder, die in den Augen der Anhänger bekämpft werden müssen, notfalls mit Gewalt. Im Fall von
„QAnon“ sind diese Vorwürfe besonders drastisch, um gleichermaßen den Hass und die Widerstandbereitschaft innerhalb
der eigenen Anhängerschaft zu steigern: Angeblichen Eliten in Staat und Gesellschaft wird vorgeworfen, Kinder zu entführen und zu
foltern, um daraus ein „Lebenselixier“ zu gewinnen.
Dieser angeblich organisierte Kindesmissbrauch unter Einsatz von Folter zeichnet also ein maximal abschreckendes Feindbild – und
fordert damit in letzter Konse-quenz auch eine besonders drastische Gegenwehr. Was wiederum die besondere Gefährlichkeit von
„QAnon“ ausmacht. In den USA wurden bereits mehrere Straftaten in Verbindung mit den „QAnon“-Vorstellungen
begangen.
(4) Verschwörungsmythen – ein Fall für den Verfassungsschutz?
Verschwörungsmythen mit Extremismusbezug sind sowohl potenzielle Radikalisierungsauslöser als auch Radikalisierungsbeschleuniger. Das macht eine fortlaufende Analyse dieses Themas aus unserer Sicht unerlässlich. Andererseits ist nicht jede Verschwörungserzählung auch verfassungsschutzrelevant.
Denn die Zuständigkeit der Verfassungsschutzbehörden macht sich nicht allein an den jeweiligen Vorstellungen der Verschwörungsgläubigen fest. Stattdessen ist gemäß der Verfassungsschutzgesetze von Bund und Ländern mehr als ein bloßer gedanklicher Extremismusbezug erforderlich. Vielmehr muss es sich um Bestrebungen handeln, also um „politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss“. Dieser Personenzusammenschluss muss die wesentlichen Verfassungsgrundsätze der frei-heitlichen demokratischen Grundordnung ganz oder teilweise außer Geltung zu setzen versuchen (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 3 Landesverfassungsschutzgesetz – LVSG). Hierzu gehören nach aktueller Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Menschenwürde sowie das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip.
Entscheidend für die Bewertung des Extremismusgehalts eines Verschwörungsmythos ist zum einen das gewählte Feindbild, also der oder die angeblichen „Verschwörer“. Oft werden diese Gruppen als „Eliten“ bezeichnet, oft auch mit Personen jüdischen Glaubens gleichgesetzt. Zum anderen ist die aus dem jeweiligen Mythos abgeleitete Konsequenz entscheidend. Soll also beispielsweise das demokratische System als Ganzes überwunden werden, da politischen Führungspersönlichkeiten eine systematische Verschwörung unterstellt wird, ist dies grundsätzlich unvereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
Zusätzlich zu den bereits bekannten Extremismusformen, in denen Verschwörungsmythen schon immer eine große Rolle spielten, tauchen inzwischen vermehrt Bewegungen auf, die nicht ohne Weiteres bislang bekannten Phänomenen zugerechnet werden können. Hierzu zählt „QAnon“, das weder ausschließlich rechtsextremistische noch „Reichsbürger“-typische Versatzstücke aufweist. Ein weiteres Beispiel für eine schwer zuzuordnende, zumindest in Teilen möglicherweise extremistische Bestrebung ist die frauenfeindliche und gewaltverherrlichende „Incel“-Bewegung. Dabei steht „Incel“ für die englischen Begriffe „Involuntary Celibate“, also „unfreiwilliges Zölibat“. Die Attentäter von Halle und Hanau wiesen antifeministische Einstellungen auf, die denen dieser Internet-Subkultur ähneln.
Fazit:
Verschwörungsmythen bieten wie auch extremistische Ideologien vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme. Sie können als Einstieg in den Extremismus dienen, klassische extremistische Ideologeme vertiefen und Radikalisierungen bis hin zur Gewaltanwendung beschleunigen.
Die Verfassungsschutzbehörden stehen vor der Aufgabe, auch mit neuen gesellschaftlich relevanten Erscheinungen umzugehen, diese zu bewerten und objektiv darüber aufzuklären. Es stellt sich die Frage nach einem Extremismus außerhalb der bekannten Kategorien wie etwa des Rechts- und Linksextremismus. Dieser neu zu definierende Extremismus kann extremis-tische Verschwörungsmythen umfassen, deren Ideologie z. B. auf Staatsfeindlichkeit, Antisemitismus oder anderen verfassungsfeindlichen Ideologemen basiert.
5. Abschließende Bewertung
(1) Die Beobachtung von „Querdenken“ durch das LfV
Bei der Initiative „Querdenken“ liegen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass in diesem Personenzusammenschluss verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt werden. Diese müssen durch den Verfassungsschutz weiter aufgeklärt werden. Die Ziele der Gruppierung sind darauf gerichtet, wesentliche Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen (§ 4 Abs. 1 Ziff. 3 LVSG).
Dies ergibt sich insbesondere aus den ideologischen und personellen Überschneidungen zum Milieu der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“. Hinzu kommen andere extremistische Narrative aus der Verschwörungsideologie „QAnon“ sowie NS-Relativierungen durch Redner auf „Querdenken“-Veranstaltungen. Die mangelnde oder unzureichende Distanzierung von diesen extremistischen Rednern und Teilnehmern durch die Organisatoren hat die Veranstaltungen nicht nur für „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“, sondern auch für Rechtsextremisten anschlussfähig gemacht. Allerdings lenken die Organisatoren selbst die ideologische Ausrichtung auch immer stärker in eine extremistische Richtung. Zugleich immunisieren sie sich durch ihre Staatsfeindlichkeit gegen Kritik von außen. Oder sie zweifeln an, wenn Personen durch Behörden dem Extremismus zugeordnet werden und vernetzen sich stattdessen mit ihnen.
(2) Corona-Proteste im Jahr 2021
In den vergangenen Wochen und Monaten häuften sich verfassungsfeindliche Aussagen der Organisatoren von „Querdenken“. Das deutet darauf hin, dass das politische System nicht auf demokratischem Wege beeinflusst werden soll, son-dern dass vielmehr ein nicht näher definierter Umsturz angestrebt wird. Das ursprünglich formulierte Ziel einer Aufhebung der staatlichen Corona-Maßnahmen weicht zusehends einer grundsätzlichen Staatsfeindlichkeit.
Es ist zu erwarten, dass auch in den kommenden Monaten zahlreiche Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen während der Corona-Pandemie stattfinden werden. Und das nicht nur unter dem Label „Querdenken“. Insbesondere die Diskussion um die Impfstoffe gegen Covid-19 sowie deren Verabreichung werden das Protestgeschehen aufrechterhalten. Auch wenn eine staatliche Impfpflicht bislang ausgeschlossen wird, ist die Thematik geeignet, die Proteste am Leben zu erhalten – oder sie sogar weiter zu befeuern. Extremisten werden die Thematik nutzen, um weiterhin Stimmung gegen Staat und Politik zu machen. Ob jedoch bei künftigen Demonstrationen vergleichbare Teilnehmerzahlen wie im vergangenen August in Berlin erreicht werden können, bleibt abzuwarten. Wir als LfV rechnen damit, dass die Bewegung versucht, auf andere Aktionsformen auszuweichen, um weiterhin mediale Wirksamkeit zu erzeugen.
(3) Eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung
Unabhängig hiervon wird das LfV die Analyse der Aktivitäten von „Querdenken“ fortsetzen. Auch die zu erwartenden anhaltendenden extremistischen Einflussversuche auf das Protestgeschehen behalten wir im Blick. Die Beobachtung von „Querdenken“ durch den Verfassungsschutz kann jedoch nicht die Antwort auf alle gesellschaftlichen Fragen sein, die im Zusammenhang mit der Pandemie zu klären sind. Sie ist lediglich die gesetzlich notwendige Konsequenz und Reaktion auf einen Radikalisierungsprozess hin zur Entwicklung einer extremistischen Be-strebung. Dem LfV kommt hier die Aufgabe zu, nicht nur die Regierung, sondern auch die Öffentlichkeit über die extremistische Steuerung und Beeinflussung auf-zuklären. Das gilt insbesondere für die Teilnehmer von Protestveranstaltungen gegen die Corona-Maßnahmen.
Es ist dann die Aufgabe jedes Einzelnen, eigene Schlüsse aus den Verfassungsschutz-Erkenntnissen zu ziehen. Denn klar ist: Die
Antwort auf die gesellschaftlich relevanten Fragen im Zusammenhang mit der Pandemie darf nicht sein, gemeinsame Sache mit Extremisten zu
machen. Kritik an staatlichen Maßnahmen ist in einem demokratischen Rechtsstaat legitim und auch im Sinne unseres Grundgesetzes.
Werden aber die „roten Linien“ überschritten, dann muss sich die Demokratie als wehrhaft beweisen. Und das, bevor es zum
Sturm auf die Parlamente kommt.