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ISLAMISMUS

Islamistischer Extremismus unter syrischen Stammesangehörigen in Deutschland und Baden-Württemberg

In den Wirren des syrischen Bürgerkriegs eroberte der sogenannte Islamische Staat (IS) ab 2013 weite Teile des Landes. Seine Offensiven richteten sich dabei auch gegen stammesgeprägte Gesellschaftsstrukturen. Gegenüber den Stammesangehörigen des Landes zeigte sich der IS gnadenlos. Während einige Stämme zur Statuierung von Exempeln dezimiert wurden, schlossen sich andere Anhänger aus Furcht, Zwang oder Überzeugung dem IS an. Aufgrund der Fluchtbewegungen im Zuge des syrischen Bürgerkrieges fanden mittlerweile zahlreiche Stammesmitglieder ihren Weg nach Deutschland. Einige von ihnen verbreiten nun hierzulande jihadistische Ideologien und Narrative und rücken damit in den Fokus des Verfassungsschutzes. Dies ist auch in Baden-Württemberg der Fall, wo das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) diverse Stammesanhänger identifizieren konnte, die sich in Zusammenschlüssen organisieren und jihadistische Überzeugungen teilen.

Die beinahe romantische Vorstellung von arabischen Stämmen, die als Nomaden durch die Wüste ziehen, gehört schon lange der Vergangenheit an. Spätestens mit der Gründung arabischer Nationalstaaten konnte man auch bei ihnen einen Wandel hin zu einer urbanen Lebensweise beobachten. Dennoch blicken arabische Stämme auf jahrtausendealte Traditionen zurück, die heute noch von Bedeutung für die nahöstlichen Gesellschaften sind. Alleine in Syrien sind mehr als die Hälfte aller sozialen Strukturen auf Stämme zurückzuführen; im nordöstlichen Raum des Landes sind es sogar mehr als drei Viertel. Ihre historisch gewachsene, gesellschaftliche Verankerung sorgt mitunter dafür, dass Stammesstrukturen regional oft die faktischen politischen Autoritäten darstellen und besonders großes wirtschaftliches, militärisches und gesellschaftliches Gewicht haben. Insgesamt lassen sich in der arabischen Welt mehrere Dutzend Millionen Menschen Stämmen zurechnen.

Für Syrien ist gerade diese stark von Stammesstrukturen geprägte Region im Nordosten mit den Gouvernements al-Hasaka, ar-Raqqa und Deir ez-Zor von besonderer Bedeutung: Nahezu alle Ölvorkommen des Landes befinden sich dort. Es ist also nicht verwunderlich, dass der IS genau in dieser Region seine Kampfhandlungen zur Ausbreitung seines „Kalifats“ intensivierte. Die Bedeutung der Stämme zeigt sich auch darin, dass der IS zur administrativen Verwaltung der eroberten Gebiete eigene „Behörden für Stammesbeziehungen“ eingerichtet hat. 

Stämme in Syrien verwalten ihre Gebiete teilweise autonom und dulden eigentlich keine jihadistische Fremdherrschaft, weshalb der IS und die Stämme prinzipiell verfeindet sind. Allerdings sorgte ein Zusammenspiel aus Versprechungen, Furcht vor brutalster Gewalt und Angst vor Marginalisierung dafür, dass mehrere Stämme und ihre Anhänger Allianzen mit dem IS eingegangen sind. Diese Vermischung von Stammesidentitäten und jihadistischer Ideologie endet nicht an der syrischen Grenze. Auch unter Syrern in Deutschland gibt es Anzeichen solcher Dynamiken, die insbesondere seit Ende 2023 verstärkt in Erscheinung treten.

Flaggen, Symbole und Zahlencodes – syrische Stammesangehörige in Deutschland

Stämme und Verbände verfügen häufig über eigene Flaggen, Symbole und Zahlencodes, mit denen sich ihre Anhänger identifizieren und abgrenzen. Diese präsentieren sie mitunter gut sichtbar in den Sozialen Medien. So wurden auch die Sicherheitsbehörden in Deutschland auf zahlreiche Profile aufmerksam, die Flaggen mit entsprechenden Schriftzügen zeigen und über entsprechende Hashtags und Verlinkungen verfügten – ein Hinweis auf mögliche Personenzusammenschlüsse und Netzwerke. Auffällig war, dass ein Großteil der Anhänger dem Stamm der al-Akidat zugeordnet werden konnte, dem weltweit mehrere Millionen Personen zugerechnet werden. Er hat seine Wurzeln vorrangig in der ostsyrischen Region Deir ez-Zor. 

Neben bildlichen Darstellungen verwenden Stammesanhänger individuelle Zahlencodes, um ihre Zugehörigkeit zu belegen. So nutzen Anhänger der al-Akidat und deren Unterstämme meist die Zahl 505, während Ableger des ursprünglich saudischen Stammes Banu Hashim die Zahl 515 verwenden. Weitere Beispiele für Codes, die auf eine Stammeszugehörigkeit schließen lassen, sind 911, 707, 811 oder f.16. Diese Codes, die unter anderem auf regionale Postleitzahlen (vergleichbar mit der Stuttgarter Vorwahl 0711) zurückzuführen sind, dienen sowohl der eigenen Identifikation mit einem Stamm als auch der Abgrenzung von anderen Gruppen. Besondere Verwendung finden diese Codes bei jugendlichen Subkulturen, die die Zahlenkombinationen als „Gangzeichen“ verwenden. In Österreich und Nordrhein-Westfalen kam es bereits vermehrt zu Zusammenstößen rivalisierender Gruppierungen, bei denen sich die sogenannten 505er mit den „Ches“ (von „Tschetschenen“) Straßenkämpfe lieferten. In Stuttgart sind Anhänger der 505er ebenfalls schon mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten – unter anderem durch Körperverletzungs- oder Betäubungsmitteldelikte. Die Zahlencodes finden sich häufig auch in Form von Graffitis auf deutschen Straßen. Recherchen des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (LfV) ergaben zudem, dass manche Anhänger im Bereich der Organisierten Kriminalität in Erscheinung treten und sich unter anderem am Drogenhandel oder an Schleuseraktivitäten beteiligen. Entsprechend der arabischen Kultur existiert ein besonders starkes Loyalitäts- und Treueempfinden zwischen Stammesanhängern. Diese Verbindungen sind mit denen einer Familie zu vergleichen und können sogar staatsbürgerliche oder interreligiöse Grenzen aufbrechen. Entsprechend stark können Stammesmitglieder aufeinander einwirken, was für die Verfassungsschutzbehörden vor dem Hintergrund jihadistischer Propaganda besonders relevant ist.

Stammeszugehörigkeit und jihadistische Ideologien – eine besondere Dynamik

Stämme waren im syrischen Bürgerkrieg stark von der Ausbreitung jihadistischer Organisationen betroffen. Dies spiegelt sich auch bei Stammesanhängern in der Diaspora wider. In den Sozialen Medien – insbesondere auf TikTok und Instagram – fielen diverse Profile dieser Stammesangehörigen durch die Verbreitung jihadistischer Propaganda auf. Viele von ihnen teilten und teilen antisemitische Ressentiments, Predigten jihadistischer Gelehrter, Video- und Tonmaterial des IS, jihadistische Symbole und Memes sowie jihadistische Musikstücke (Anashid). Dass insbesondere die Sozialen Medien zur Verbreitung extremistischer Gesinnungen und Ideologien beitragen, ist eine bekannte Entwicklung, die die Verfassungsschutzbehörden seit Jahren beobachten – auch in Baden-Württemberg. Allerdings können solche Ideologieversatzstücke im Rahmen der zuvor genannten Loyalitätsverhältnisse eine besonders starke Dynamik entfalten. Dass Stammesanhänger durchaus bereit sind, islamistische Gewalttaten zu verüben, zeigt der Anschlag von Solingen vom August 2024, bei dem der Tatverdächtige die Zahl „505“ in seinem Profilnamen nutzte. Im selben Monat machte auch der vereitelte Anschlag auf das Taylor-Swift-Konzert in Wien Schlagzeilen. Einer der beiden Tatverdächtigen erklärte, er sei Mitglied des IS, er gilt aber gleichzeitig als Anhänger eines Stammes.

Fazit

Die Zugehörigkeit oder Identifizierung mit einem Stamm ist per se kein Merkmal oder Hinweis auf eine extremistische Gesinnung. Solche Strukturen existierten in der arabischen Welt schon vor der Offenbarung des Islam und sind primär als identitätsstiftend zu verstehen. Allerdings können die Anhänger besonders stark aufeinander einwirken. Dies bedeutet, dass jihadistisch geprägte Personen schnell als effektive Multiplikatoren in ihren Wirkungsräumen auftreten können. Fallen also Stammeszugehörigkeit und jihadistische Gesinnung zusammen, müssen Sicherheitsbehörden besonders aufmerksam sein. 

Recherchen des LfV zeigen, dass sich das allgemeine Personenpotenzial von Stammesangehörigen unabhängig davon, ob sie extremistisch sind oder nicht, in Deutschland auf einem sehr hohen Niveau bewegen dürfte. In Baden-Württemberg geht das LfV derzeit von einer hohen dreistelligen bis niedrigen vierstelligen Zahl aus. Entsprechend wichtig ist es, Sicherheitsbehörden, aber auch Flüchtlingsunterkünfte, Bildungseinrichtungen und andere relevante Stellen zu sensibilisieren, damit sie die Dynamiken von Menschen mit Stammesidentitäten schnell und sicher erkennen können und im Falle von Radikalisierungsverläufen in der Lage sind, effektiv zu agieren.