Um rechtliche Pflichten oder die eigene Verantwortung für Fehlverhalten zu umgehen, suchen „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ immer wieder neue, teilweise durchaus kreative Wege. Während „Reichsbürger“ überwiegend die Gültigkeit der Gesetze der Bundesrepublik anzweifeln bzw. negieren, verweisen „Selbstverwalter“ oftmals auf übergeordnete Rechtssysteme, die aus ihrer Sicht Vorrang vor deutschen Normen hätten. So heben sie eigene Interessen vermeintlich auf eine höhere juristische Ebene, ohne beispielweise das Grundgesetz explizit für ungültig zu erklären. „Selbstverwalter“ führen hier gerne die Europäische Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten), die Charta der Vereinten Nationen (UN) oder das Völkerrecht an.
Die Argumentationsstrategien der „Selbstverwalter“
Die Strategie von „Selbstverwaltern“ beinhaltet zumeist die Umgehung sehr kleinteiliger Normen, die ihnen Nachteile im Alltag bringen. Zum Beispiel begegnen sie der schlichten Bußgeldforderung einer staatlichen Behörde mit dem Argument, dass sie sich unter Berufung auf die Europäische Menschenrechtskonvention nicht an eine Zahlung gebunden fühlen. Auch das für „Selbstverwalter“ typische Ausrufen eigener Fantasiestaaten wird teilweise mit übergeordneten Rechtssystemen begründet. Manche Milieuanhänger stützen sich hierbei auf die UN-Resolution 56/83: Artikel 9 erlaubt es Personen oder Personengruppen, im Falle der Abwesenheit oder des Ausfalls staatlicher Stellen, hoheitliche Befugnisse auszuüben. Die „Selbstverwalter“ verkennen dabei den Umstand, dass es sich bei dieser Resolution um eine rechtlich nicht bindende Empfehlung handelt. Darüber hinaus übt die Bundesrepublik selbstverständlich Staatsgewalt aus, was die Übernahme entsprechender hoheitlicher Aufgaben durch „Selbstverwalter“ auf demselben Staatsgebiet ohnehin ausschließt.
Neu in der Szene: die „Internationale Organisation Völkerrecht“
Die „Selbstverwalter“-Gruppierung „Internationale Organisation Völkerrecht“ (IOV), die erst seit Ende 2023 aktiv ist, legt ihren Fokus – wie die Organisationsbezeichnung bereits vermuten lässt – ebenfalls auf ein übergeordnetes Normsystem, in diesem Fall das Völkerrecht. Mit dem Bezug auf überstaatliches Recht will die IOV verdeutlichen, dass sie sich in einem „höheren Rechtskreis“ befinde. Die Gruppierung bezeichnet sich dabei als „Schutzmacht“ der Zivilbevölkerung, die dabei helfe, „völkerrechtliche Versäumnisse aufzuarbeiten“. Durch ihr Auftreten, beispielsweise in Form hochtrabend klingender Titel, suggerieren die Anhänger der Gruppierung, über dem Grundgesetz zu stehen: Sie bezeichnen es jedoch nicht explizit als ungültig.
Die IOV nutzt ihre Argumentation vor allem, um staatliche Maßnahmen abzuwehren: Sie verlangen beispielsweise, Forderungen des öffentlichen Rundfunks (Rundfunkgebühren), vor dem „Gerichtshof der Menschen“ zu klären. Die Abwehr staatlicher Maßnahmen wird mit dem Völkerrecht allgemein, den Menschenrechten (nach eigener Interpretation) sowie dem Genfer Abkommen begründet. Vereinzelt ziehen sie auch das Grundgesetz zur Argumentation heran, betonen aber gleichzeitig, dass man sich auf einer internationalen Rechtsebene befinde. Über diesen Verweis in den Schreiben der IOV, die formal einen offiziellen Anschein erwecken, fordert die Gruppierung rechtliche Erleichterungen. Belastende staatliche Maßnahmen stellen aus Sicht der IOV Rechtsverletzungen dar und werden zurückgewiesen. Neben den Rundfunkgebühren betrifft dies beispielsweise auch die Abgabe von Steuererklärungen.
„Diplomatische Noten“ gegen Windparks
Neu für das Milieu der „Selbstverwalter“ ist, dass die IOV sich in ihren Schreiben gegen die Errichtung von Windparks ausspricht – wenngleich Kritik an alternativer Energiegewinnung in extremistischen Milieus immer wieder anzutreffen ist. Die IOV präsentiert ihre Ablehnung in Form einer sogenannten „Diplomatischen Note“ mit der Forderung, den Weiterbau solcher Parks bis zur vermeintlichen juristischen Klärung ruhen zu lassen. Die Ablehnung einer „Diplomatischen Note“ begründe einen „Kriegszustand“. Entsprechende Begriffe werden im Milieu oftmals genutzt, um Mitarbeiter staatlicher Stellen einzuschüchtern.
Auch der pseudojuristische Mythos, Gerichtsvollzieher hätten seit 2012 keine Berechtigung zur Durchsetzung staatlicher Maßnahmen mehr, wird von der IOV verbreitet. Angeblich seien diese seit Jahren selbständig tätig und deshalb nicht befugt, beispielweise Rundfunkgebühren einzutreiben. Tatsächlich sind Gerichtsvollzieher nach wie vor Beamte. Dieser Mythos basiert auf einer juristischen Fehlinterpretation, die sich nicht nur im Milieu der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ rasant verbreitet hat.
Die IOV im Überblick
Die IOV gibt vor, Interessen der Zivilbevölkerung im Sinne des Völkerrechts zu vertreten und sich für den internationalen Frieden einzusetzen. Die Berufung auf internationales Recht bzw. einen „höheren Rechtskreis“ dient dazu, juristische Expertise vorzutäuschen und bei staatlichen Stellen – teilweise mit Erfolg – Verwirrung zu stiften. Die Forderung nach einer Anerkennung als „internationale Organisation“ ist im Milieu der „Selbstverwalter“ nicht neu. Die formale Aufmachung der IOV-Schreiben wirkt jedoch professioneller als bei vergleichbaren Gruppierungen.
Zum Umgang mit „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ verweisen wir auf die Broschüre
des LfV zu diesem Thema.