Rechtsextremismus

IB-Chef ruft zur „Flucht nach vorn“ auf

Der Co-Chef der „Identitären Bewegung Österreich“ (IBÖ), Martin SELLNER, hat in einem Zeitschriftenartikel zur ständigen Provokation staatlicher Stellen aufgerufen. Diese Strategie bezeichnet er als „Repressionsakzelerationismus“: Das „rechte Lager“ soll demnach repressive staatliche Maßnahmen stetig antreiben und verstärken, statt sich immer mehr zurückzuziehen. Ziel dieser andauernden Provokationen ist es, staatliche Institutionen als undemokratisch und autoritär darzustellen.

In einem Artikel in der Zeitschrift „Sezession“ (Nr. 99/Dezember 2020) mit der Überschrift „Flucht nach vorn“ setzt sich SELLNER mit der aktuellen strategischen Ausrichtung des „rechten Lagers“ auseinander. Darunter versteht er sowohl rechtsextremistische Gruppierungen wie die „Identitäre Bewegung“ (IB) als auch solche Akteure, die sich im Graubereich zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus bewegen. 

Ausgangspunkt des Artikels bildet SELLNERs Wahrnehmung, dass liberale Wohlfahrtsstaaten „eine beeindruckende Fähigkeit (…) zur Einbindung, Kommerzialisierung und Nutzbarmachung extremistischer Bewegungen“ aufweisen. Die Gesellschaft habe linksextremistische Bestrebungen langfristig eingebunden, auf Rechtsextremisten dagegen immer mit „Repression und totaler Dämonisierung“ reagiert. Linke Kräfte würden diesen Zustand mittlerweile größtenteils anerkennen, auch weil sie bislang weder auf parlamentarischem, noch metapolitischem oder terroristischem Wege ihre Ziele erreicht hätten. Dies gilt nach Ansicht von SELLNER aber nicht für die eigene Bezugsgruppe:

„Rechter Widerstand jedoch war niemals auch nur ansatzweise so bedeutend, als daß man seine Strategien als erprobt und gescheitert betrachten könnte. Generell fehlt es im rechten Lager seit eh und je an Revolutionstheorien.“

Während er das Scheitern linker Ideologie beispielsweise anhand des Zusammenbruchs des „real existierenden Sozialismus“ begründet, vermeidet SELLNER es hier ganz offensichtlich, den Nationalsozialismus als Ausprägung „rechten Widerstands“ anzuführen. Dessen ungeachtet vertritt er die Ansicht, dass ein Defizit an revolutionärem Denken im „rechten Lager“ momentan zu Rückzugsversuchen in apolitische Räume führt. Diese Strategie lehnt er aus zwei Gründen ab: Einerseits werde jeder Versuch, sich in rechtsextremistischen Parallelgesellschaften zu organisieren, „wirtschaftlich ruiniert oder juristisch zerschlagen“. Auf der anderen Seite hält SELLNER den erwarteten „großen Zusammenbruch“ in absehbarer Zeit für unwahrscheinlich, für ihn ist kein zeitlicher Endpunkt für das Ausharren in einem solchen Rückzugsraum in Sicht. So kommt er zum Schluss: Das „rechte Lager“ darf nicht den Rückzug antreten, sondern muss zwingend eine konfrontative Strategie verfolgen. Konfrontation setzt nach SELLNERs Auffassung staatliche Gegenmaßnahmen in Gang, die das autoritäre Wesen des Staats demaskieren: 

„Durch gezielte Provokation wird die nötige offene Zensur ständig erhöht werden, bis sie entweder der Meinungsfreiheit nachgibt oder offen totalitär wird.“ 

Diese Provokationen müssten unbedingt „legal, gewaltfrei und demokratisch“ sein, da jede Form der Militanz „retardierend und systemstabilisierend“ wirke. Militanz schmälere außerdem das eigene Unterstützerpotenzial und lasse das „Widerstandspotential“ der eigenen Organisation insgesamt schwinden. Weiter führt SELLNER aus:

„Der Druck muß so moderat wie möglich und so radikal wie nötig sein. Er muß für uns langfristig tragbar, für den Gegner aber unerträglich sein.“

Rückzugsräume, die sich die IB mittlerweile durch eigene Wohnprojekte und gemeinsame kulturelle Bezugspunkte geschaffen hat, sollen laut SELLNER kein Selbstzweck sein. Er betrachtet sie allenfalls als Ausgangspunkt und Inspirationsquelle, auf deren Basis sich die eigenen Positionen mit Nachdruck auch außerhalb des eigenen Bezugssystems verbreiten lassen. Um die eigene Komfortzone zu verlassen, soll man beispielsweise gezielt die Konfrontation in Universitätsstädten suchen: 

„Dieser Weg führt uns aber nicht in die ländliche Unsichtbarkeit. Er führt uns in die Städte und die Universitäten, auf die Straßen und Dächer der gegnerischen Machtzentren. Er führt nicht weg von der Repression, sondern mitten in sie hinein und durch sie hindurch.“

Bewertung

Alles in allem ist SELLNERs im Artikel dargelegte Haltung nicht neu. Auch in vorangegangenen Strategieaufsätzen sowie in seinem Buch „Identitär! Geschichte eines Aufbruchs“ formuliert der Österreicher ähnliche Handlungsanweisungen. Der Aufsatz „Flucht nach vorn“ aktualisiert diese Grundüberlegungen lediglich und deutet an, dass sich die IB selbst zusehends in der Defensive wähnt. 

Neben der direkten Forderung nach neuen Provokationen geht aus dem Text auch die langfristige Zielsetzung von Gruppierungen wie der IB deutlich hervor. Sie propagiert zwar in erster Linie einen Kampf um Begriffe und verortet ihr Handeln in der „Metapolitik“, also jenseits von Parteipolitik. Daraus darf man aber nicht folgern, dass die IB keinen konkreten gesellschaftspolitischen Gestaltungswillen verfolgt: Ihr Ziel ist und bleibt der Umbau von Politik und Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen. SELLNER macht diesen Zusammenhang mit folgenden Worten deutlich:

„Nur ein metapolitischer Ansatz, dessen unverbrüchliches Ziel die realpolitische Gestaltungsmacht bleibt, ist die Opfer wert, die er mit sich bringt.“

Martin SELLNER hat großen Einfluss auf die gesamte deutschsprachige IB, so dass seine Positionen auch auf IB-Aktivitäten in Baden-Württemberg abfärben. Vor diesem Hintergrund ist damit zu rechnen, dass der Aktivitätsgrad der Regionalgruppen IB Schwaben und IB Baden – unter Berücksichtigung ihrer verfügbaren Ressourcen – gleich bleibt oder sogar ansteigt, gerade in Universitätsstädten. Dass IB-Aktivisten hierbei Gewalt anwenden, ist weiterhin eher unwahrscheinlich, insbesondere bei Konfrontationen mit dem politischen Gegner aber auch nicht auszuschließen.

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