Islamismus

Europaweite „Milli-Görüs“-
Gedenkveranstaltungen für Erbakan 
und weitere „Vorreiter“


Die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V.“ (IGMG) führte Anfang des Jahres auch in Baden-Württemberg Gedenkveranstaltungen für „Milli-Görüs“-Gründer Erbakan und weitere Vordenker des Islamismus durch. In diesem Jahr stand Erbakans 10. Todestag am 27. Februar im Mittelpunkt. Anders als in den Jahren zuvor fanden die Veranstaltungen aufgrund der Pandemie online statt. Auch die Regionalbüros der „Saadet Partisi“ (SP) übertrugen anlässlich der „Woche des Gedenkens und Verstehens Erbakans“ (Erbakan’i Anma ve Anlama Haftasi) eine Reihe von Online-Vorträgen in den sozialen Netzwerken.

Die vier IGMG-Regionalverbände in Baden-Württemberg führten – ebenso wie zahlreiche weitere europäische Regionalverbände – jeweils unter Mitwirkung eines hochrangigen IGMG-Funktionärs eine digitale Gedenkveranstaltung durch. Am 27. Februar präsentierte Murat ILERI, stellvertretender Generalvorsitzender und Vorsitzender der Kommission für Gemeindeentwicklung, die Veranstaltung des Regionalverbands Württemberg. Beim Gedenken des Regionalverbands Rhein-Neckar-Saar am selben Tag sprach ein Vertreter der mit der IGMG kooperierenden „Berufsfachschule Muslimischer Führungskräfte“ (BeMuF) in Mainz. Für den Regionalverband Schwaben moderierte tags darauf ein Angehöriger der Revisionskommission, beim Regionalverband Freiburg-Donau ein Repräsentant der „Islamischen Föderation Berlin“ (IFB). Beworben wurden diese Veranstaltungen mit einem von der IGMG eigens produzierten YouTube-Video. Es wurde am 13. Februar 2021 hochgeladenen und enthielt folgende Aussage: 

„Wir gedenken der Vorreiter, die unseren Weg erleuchten, unser Leben erhellen und die die heilige Mission von den Vorgängern übernommen und uns übergeben haben. Unsere Gedenkveranstaltungen für die Vorangegangenen (‚Önden Gidenler‘) im Jahr 2021 werden auf Online-Plattformen stattfinden.“ 

Neben der Person des „Milli-Görüs“-Gründers Necmettin Erbakan standen unter anderem dessen spiritueller Lehrmeister Mehmed Zahid Kotku und prägende Persönlichkeiten der IGMG im Zentrum. Das Gedenken galt ebenso Personen wie Alija Izetbegovic, dem ersten Präsidenten von Bosnien-Herzegowina, und Malcolm X, dem ehemaligen Wortführer der „Nation of Islam“ in den USA.

Ablauf und Inhalte

Der Ablauf der Gedenkveranstaltungen folgt seit Jahren einer ähnlichen Form, die jeweils eine Koranlesung, eine Videopräsentation, den Auftritt eines Gastredners und Gebete für die Verstorbenen umfasst. Hier kommt die Beteuerung bedingungsloser Gefolgschaft und Treue zur „Mission“ zum Ausdruck, jedoch fehlt es an einer kritischen Sichtweise bezüglich der betreffenden Persönlichkeiten. Dies trifft insbesondere auf Necmettin Erbakan zu, dessen antiwestliche und antisemitische Einstellungen in der IGMG bislang nicht Gegenstand einer Aufarbeitung waren. In einem Beitrag des IGMG-Online-Magazins „camiahaber“ mit dem Titel „Gegrüßt seien die Vorreiter“ vom 19. Februar 2021 schreibt der Autor: 

„Dieser Menschen zu gedenken ist kein dürres Gedenken. Die Besonderheit und Eigenheit eines jeden von ihnen bedeutet Licht auf unserem Weg. Und die drei wichtigsten Eigenschaften von ihnen allen sind Geduld im Wissen, Beharrlichkeit auf dem rechten Weg und klaglose Dienerschaft gegenüber Allah.“ 

Die Aufgabe besteht dem Text zufolge darin, auf dem Weg der „Vorreiter“ voranzugehen und sich zu bemühen, selbst zum Vorreiter zu werden. Ein weiterer Beitrag desselben Online-Magazins vom 1. März 2021 berichtet über die Auftritte des IGMG-Generalvorsitzenden Kemal ERGÜN bei den Gedenkveranstaltungen der Regionalverbände Ruhr-A und Wien. ERGÜN habe dort zunächst auf die Grundprinzipien der IGMG in Gestalt der „Bindung an Koran und Sunna“ verwiesen. Die Besonderheiten der „Vorangegangenen“ manifestierten sich laut seinen Ausführungen an folgenden durch den Propheten Mohammed beschriebenen Eigenschaften: 
1. Schlüssel zum Guten und Riegel vor dem Bösen (hayra anahtar, serre kilit) zu sein; 
2. niemals Tyrannen (zalim) und Tyrannei (zulüm) zugeneigt, sondern stets auf Seiten der Unterdrückten (mazlum) und Benachteiligten (magdur) zu sein; 
3. nie in Hoffnungslosigkeit zu verfallen und 
4. stets auf Allah zu vertrauen. 

Im weiteren Verlauf des Artikels führt ERGÜN aus, die Gemeinsamkeit der wegweisenden „Vorreiter“ bestehe in deren Vorbildfunktion für die Menschheit hinsichtlich Glauben, Wissen und Handlungen. Die „Vorreiter“ verdienten das Gedenken aufgrund ihrer Dienste am Islam und an der Menschheit. Es sei Pflicht, den Kampf, den sie geführt und das Wissen, das sie erworben hätten, richtig zu verstehen und an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. 

Mediale Rezeption 

Einige wenige Artikel in der deutschsprachigen Presse jedoch ließen in Hinblick auf die Reverenzen gegenüber den genannten Persönlichkeiten, insbesondere Necmettin Erbakan, eine andere Wertung erkennen. Das „Oberösterreichische Volksblatt“ prangerte am 27. Februar 2021 „Weltweite Online-Huldigungen für einen Islamisten und Antisemiten“ an. Zu derselben Einschätzung kam am 1. März 2021 das „Luxemburger Tageblatt“: Hier war zu lesen, Erbakan sei ein zumindest „zweifelhaftes Vorbild“ – wegen seiner Vision einer vermeintlich „gerechten islamischen Ordnung“ (Adil Düzen), welche die westliche Ordnung ersetzen solle, und wegen seines antisemitischen Erbes, das sich bis heute in den sozialen Medien manifestiere. Die jährlichen Huldigungen, so der weitere Tenor, trügen nicht zu einer Verringerung der Präsenz dieser Themen in der IGMG bei, zumal sie nicht für kritische Betrachtungen, sondern zur Glorifizierung genutzt würden. 

Zudem ging auch ein ehemaliger IGMG-Funktionär auf seiner Facebook-Seite deutlich auf Distanz zum Gründervater der „Milli-Görüs“-Bewegung. Er rügte ebenfalls die gänzlich fehlende Auseinandersetzung der IGMG mit dessen problematischen Facetten. Die Organisation präsentiere ihn als „makellose Lichtgestalt frei jeglicher Fehler“, als „Anführer der gesamten muslimischen Umma“. Hinzu komme das nicht hinterfragte Herabschauen Erbakans auf die türkeistämmige Arbeiterschaft in Europa – samt deren finanzieller Instrumentalisierung – und das ideologisierte Islamverständnis. Innerhalb der IGMG bestehe weitgehend „ein Zerrbild von einem in der Basis imaginierten Erbakan, der mit dem real existierenden Erbakan zwar sicherlich Schnittpunkte, aber keine Deckungsgleichheit“ besitze. 

In bundesdeutschen Medien wurden die Gedenkfeiern öffentlich nicht kommentiert und möglicherweise gar nicht wahrgenommen. Dies mag einerseits der Pandemiesituation und der für Außenstehende kaum zugänglichen Online-Präsentationsform sowie der Sprachbarriere geschuldet sein. Andererseits ist es eine Tatsache, dass eine Auseinandersetzung mit dieser politischen Haltung von aus der Türkei migrierten Mitbürgern, die an politischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen in Deutschland teilnehmen, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene bisher nicht stattgefunden hat.

Diese Website verwendet Cookies. Weitere Informationen erhalten Sie in der Datenschutzerklärung.