Rechtsextremismus | Reichsbürger und Selbstverwalter | Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates

Corona-Proteste: Von der Demonstration zum „Spaziergang“

Zu Protesten gegen die Corona-Maßnahmen versammeln sich in Baden-Württemberg derzeit teils mehrere Tausend Menschen, darunter auch „Reichsbürger“, „Selbstverwalter“ und Mitglieder von rechtsextremistischen Organisationen. Eine führende Rolle bei den Versammlungen spielen die Extremisten bislang aber nicht.

Seit dem Frühjahr 2020 protestieren Teile der Bevölkerung gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. In den vergangenen Wochen war ein Wandel der Protestform zu beobachten: Statt zu (Groß-)Demonstrationen treffen sich Personen zu dezentral stattfindenden „Spaziergängen“, darunter auch Akteure aus den Phänomenbereichen „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“, „Rechtsextremismus“ sowie „Reichsbürger und Selbstverwalter“. Teilweise kommen zu den „Spaziergängen“ mehrere Hundert, teilweise aber auch mehrere Tausend Personen zusammen. Die Personen, die den extremistischen Szenen zugeordnet werden können, nehmen nach derzeitiger Erkenntnislage keine führende Rolle im Protestgeschehen ein.  

Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates

Dem Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ zugehörige Personen und Gruppierungen sowie Personen, die keinen extremistischen Szenen zugeordnet werden können, rufen weiterhin dazu auf, gemeinsame „Spaziergänge“ in den Innenstädten zu unternehmen. Hierzu kursieren in den Sozialen Medien Listen von Städten und Gemeinden mit Zeit- und Ortsangaben, an denen sich die Maßnahmengegner treffen sollen.

Am 7. Februar 2022 fand beispielsweise in der Rottweiler Innenstadt zum wiederholten Mal eine nicht angemeldete Versammlung in Form eines „Montagsspaziergangs“ statt. Ein Versammlungsleiter gab sich nicht zu erkennen. Nachdem sich ein Großteil der Teilnehmenden auf eine Fahrbahn begeben hatte, musste verkehrsregelnd eingegriffen werden. Nach Ansprache durch die Einsatzkräfte gingen die Teilnehmenden wieder auf die Gehwege zurück. Begleitet wurden die polizeilichen Maßnahmen durch provozierende Sprechchöre mit den Worten „Widerstand – Widerstand“. Insgesamt war festzustellen, dass die Stimmung gegenüber den Einsatzkräften im Vergleich zu den Vorwochen deutlich aufgeheizter und in Teilen auch aggressiv war. 

In der Folge des „Montagsspaziergangs“ wurden mehrere Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet, u. a. wegen des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sowie Verstößen gegen die Corona-Auflagen.

Sowohl am 13. als auch am 14. Februar 2022 zogen sogenannte Spaziergänger vor das Wohnhaus des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Sigmaringen, um gegen die Corona-Politik zu demonstrieren.  

Rechtsextremismus

Mitglieder der rechtsextremistischen Parteien „Der III. Weg“ und der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD) nehmen weiterhin an Demonstrationen und „Spaziergängen“ teil. So ging der Vorsitzende des baden-württembergischen Landesverbandes der NPD, Jan JAESCHKE, laut seinem Facebook-Profil am 14. Februar 2022 in Sinsheim auf die Straße. Dazu schrieb er: „Sich an der frischen Luft bewegen ist so wichtig. Gerade in dieser Zeit. Darum bin ich froh, dass ich meinen Neujahrsvorsatz wöchentlich ein bis zwei Tage spazieren zu gehen bisher so konsequent durchgehalten habe. 400 Andere hatten das in Sinsheim heute auch gemacht.“

Am 9. Februar 2022 veröffentlichte „Der III. Weg“ in einem Artikel auf der Parteiwebseite eine „Rückschau“ zum Corona-Protestgeschehen im Januar 2022 mit dem speziellen Fokus auf Baden-Württemberg und Bayern. So stehe der Süden „gegen die herrschende Corona-Diktatur“ auf. Mitglieder der Partei seien bei vielen Spaziergängen präsent und informierten auf diesen über die „nationalrevolutionäre Alternative zum herrschenden System“, so „Der III. Weg“ weiter. Im Abschnitt zu Baden-Württemberg werden Bilder zu Flugblattverteilungen in Villingen, Reutlingen und am Bodensee gezeigt. Ebenso ist ein Bild eingestellt, das ein Mitglied mit Parteikleidung in Brackenheim zeigt. Neben den durchgeführten Flugblattverteilungen werden auch die regelmäßigen Teilnahmen an den „Protesten und ‚Spaziergängen‘ gegen die ausufernde Corona-Diktatur“ explizit erwähnt. Konkret benannt werden die Orte Villingen, Ulm, Reutlingen und Münsingen.

Was die „Junge Alternative Baden-Württemberg“ (JA BW) betrifft, zeigt sich zunehmend, dass sie das Corona-Protestgeschehen für ihre Agenda instrumentalisieren möchte und gezielt versucht, Demonstrationsteilnehmer von einer aktiven Mitwirkung in der JA zu überzeugen. So berichtete Jochen LOBSTEDT, Landesvorsitzender der JA BW, dass er am 24. Januar 2022 bei einem „Spaziergang“ in Singen zahlreiche Mitgliedsanträge verteilen konnte. Am 25. Januar 2022 nahm LOBSTEDT laut seinem Facebook-Profil an einem „Spaziergang“ in Villingen teil, am 26. Januar 2022 in Spaichingen und am 7. Februar 2022 erneut in Singen.

Nach wie vor nehmen Rechtsextremisten keine führende Rolle im Protestgeschehen ein. Sie versuchen jedoch unentwegt, ihre Ideen zu verbreiten und Anschluss bei den Demonstranten zu finden.  

Reichsbürger und Selbstverwalter

Auch Personen, die dem Milieu der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ zuzuordnen sind, nehmen an „Spaziergängen“ gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen teil. Ein Beispiel ist der „Sonntagsspaziergang“ der „Querdenken“-Bewegung am 30. Januar 2022 in Albstadt. Unter den ca. 1.700 bis 2.000 Teilnehmenden befanden sich insgesamt rund fünfzig Personen, die der „Reichsbürger“-Szene angehören oder mit ihr sympathisieren. 

Einordnung und Bewertung

Die Umwandlung der bisherigen (Groß-)Demonstrationen in „Spaziergänge“, die derzeit oft zu beobachten ist, hat drei wichtige Ursachen:

  1. Das Wort „Spaziergang“ soll den Eindruck erwecken, dass es sich dabei um ein legales Zusammentreffen handelt. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn in Baden-Württemberg gilt, dass öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel oder Aufzüge mindestens 48 Stunden vorher bei den Behörden angemeldet werden müssen. Zudem sind die Veranstalter verpflichtet, den Behörden vorab Auskunft über den Gegenstand der Versammlung oder des Aufzugs zu geben und eine Leitungsperson zu benennen. Nur so bekommen die Behörden die Möglichkeit, z. B. den Verkehr entsprechend zu regeln oder die Zahl der Teilnehmenden aus Sicherheitsgründen zu beschränken. In vergangenen Wochen kam es häufig zu keinen Anmeldungen der „Spaziergänge“. Auf diese Weise konnten die Initiatoren und Anhänger des Protests gegen die staatliche Corona-Politik zum einen eventuelle Vorgaben des Gesundheitsschutzes (beispielsweise Maskenpflicht) leichter unterlaufen. Zum anderen forderten sie mit ihren spontanen, unangemeldeten „Spaziergängen“ die Polizei heraus. Alles in allem kann der Rückgriff auf den Spaziergang also als ein taktisches Manöver bezeichnet werden. 

  2. Die Organisatoren des Protests gegen die staatliche Corona-Politik beanspruchen den Begriff des „Spaziergangs“, weil dieser friedlich, unpolitisch und somit unschuldig klingt. Mit einem „Spaziergang“ können sich viele Menschen identifizieren – insbesondere während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 entwickelte sich der Spaziergang zu einer Art Volkssport. Indem sie zu einem harmlos klingenden „Spaziergang“ aufrufen, erhoffen sich die Initiatoren des Protests gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen eine breitere Beteiligung – vor allem von Bürgern, die sich von den Wörtern „Demonstration“, „Versammlung“ bzw. „Protest“ abschrecken lassen.

  3. Schließlich lässt sich die Instrumentalisierung des „Spazierengehens“ damit erklären, dass die „Spaziergänge“ Spontaneität zum Ausdruck bringen sollen: Trotz kurzfristiger Ankündigungen in den sozialen Netzwerken treffen sich zahlreiche Personen. Auf diese Weise wollen die Organisatoren des Protests den Eindruck erwecken, es handele sich um eine Massenprotestbewegung.

Alles in allem dient der Begriff „Spaziergang“ den Initiatoren und Anhängern des Protests gegen die staatliche Corona-Politik somit als Selbstverharmlosung.

In einigen Fällen kam es bei den „Spaziergängen“ zu Ausschreitungen sowie zu Angriffen auf Polizeibeamte und Pressevertreter. Neben dem bereits erwähnten „Spaziergang“ am 7. Februar 2022 in Rottweil ist der „Lichterspaziergang“ am 11. Dezember 2021 in Reutlingen hierfür ein Beispiel. Dort kam es zu Zusammenstößen zwischen Einsatzkräften und Demonstranten. Ein weiteres Beispiel für Ausschreitungen liefert eine unangemeldete Demonstration am 10. Januar 2022 in Friedrichshafen, wo es zu einem tätlichen Angriff auf zwei Journalisten kam. 

Neu ist der politisch motivierte Rückgriff auf „Spaziergänge“ nicht: Die Protestbewegung „Pegida“[1] („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) und ihre verschiedenen Ableger (z. B. „Thügida“) riefen insbesondere zwischen 2014 und 2016 zu „Abendspaziergängen“ auf. Diese fanden in der Regel montags statt, weshalb auch von „Montagsspaziergängen“ die Rede war. Hier zeigt sich noch eine weitere Parallele zu den heutigen „Spaziergängen“ gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie: Auch diese finden häufig montags statt. Sowohl „Pegida“ als auch die Corona-Protestbewegung versuchen auf diese Weise, ihre „Spaziergänge“ in die Tradition der Montagsdemonstrationen zu stellen, die 1989 in der damaligen „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR) stattfanden.

Fazit 

Versammlungen gegen die staatliche Corona-Politik haben zuletzt häufig in Form dezentraler, sogenannter Spaziergänge stattgefunden. Die Organisatoren versuchen auf diese Weise, Versammlungsverboten vorzubeugen oder diese zu umgehen. Vorgaben des Gesundheitsschutzes werden im Rahmen der „Spaziergänge“ teilweise unterlaufen, polizeiliche Anordnungen oftmals ignoriert oder es wird diesen aktiv zuwidergehandelt. Die „Spaziergänge“ sind also nicht so friedlich, wie das Wort nahelegt. 

Nach Einschätzung des LfV beteiligen sich an den derzeitigen Protesten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen im Land zu einem überwiegenden Teil Personen, die nicht den extremistischen Szenen zugeordnet werden können. Gleichwohl stellt das LfV fest, dass extremistische Narrative und Verschwörungsideologien mitunter auch von diesen Personen aufgegriffen und verbreitet werden. Dies ist insbesondere auf den derzeit stattfindenden „Spaziergängen“ zu beobachten. 

Bei entsprechenden Veranstaltungen in Baden-Württemberg anwesende Extremisten können den Phänomenbereichen „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“, „Rechtsextremismus“ sowie „Reichsbürger und Selbstverwalter“ zugeordnet werden. Diese Personen nehmen nach derzeitiger Erkenntnislage allerdings keine führende Rolle im Protestgeschehen ein. Sie versuchen gleichwohl unentwegt, ihre Ideen zu verbreiten und Anschluss bei den Demonstranten zu finden.




[1] „Pegida“ ist Beobachtungsobjekt des Landesamts für Verfassungsschutz Sachsen.

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