Islamismus

Schön, gefährlich, nützlich: Was Salafisten über den menschlichen Körper denken

Kein Makeup in der Öffentlichkeit, kein schädlicher Alkohol, kein Essen und Trinken zu den vorgegebenen Zeiten: Körperbasiertes Denken nimmt im Salafismus großen Raum ein. Salafistische Akteure ermahnen ihre Anhänger dazu, ihren Körper zu akzeptieren und gut für ihn zu sorgen, daneben sollen sie ihn für den Gottesdienst nutzen. Die damit einhergehenden Ge- und Verbote verdeutlichen den totalitären Charakter dieser Ideologie, die nicht zwischen Privat und Öffentlich unterscheidet: Im Salafismus darf der Mensch nicht über seinen eigenen Körper bestimmen.

In der salafistischen Ideologie ist der menschliche Körper eine zentrale Komponente. Er wird als von Gott gegeben verstanden, woraus sich im Umkehrschluss verschiedene Pflichten für das Individuum ableiten. Drei Appelle sind dabei leitend: Akzeptanz, Fürsorge und Instrumentalisierung für den Gottesdienst. 

Akzeptanz: Dankbarkeit für Allahs Geschenk

Das Gottesbild der Salafisten ist eng verknüpft mit der Vorstellung, Allah habe die Menschen grundsätzlich mit Schönheit ausgestattet. Insofern werden Veränderungen am äußeren Erscheinungsbild aus rein ästhetischen Gründen abgelehnt, wie zum Beispiel Brustvergrößerungen oder Nasenkorrekturen. Beides sei nur aus medizinischen Gründen gestattet, etwa um nach einer Nasenkorrektur besser atmen zu können oder nach einer Brustkrebs-OP das Gewebe wiederaufzubauen.

Von diesem Appell sind ebenso vorübergehende Anpassungen betroffen, beispielsweise farbige Kontaktlinsen oder künstliche Haarverlängerungen. Gegen die Haarverlängerung argumentieren Salafisten zuweilen mit einer Überlieferung (Hadith): So sei der Prophet Mohammed gefragt worden, ob eine Frau, deren Haare ausgefallen seien, eine Perücke tragen dürfe. Mohammed habe geantwortet: „Diejenige, die das macht, und diejenige, die das machen lässt, beide sind verflucht.“ Makeup ist jedoch nicht verboten: So sei es einer Frau gestattet, Kosmetik zu nutzen, um sich ihrem Ehemann – jedoch nur ihm – „in bester Form“ zu zeigen, wie aus einer Fatwa, einem islamischen Rechtsgutachten, hervorgeht.

Salafisten glauben, Allah habe Frauen mit besonderer Schönheit ausgestattet. Die damit verbundenen Reize hätten die Macht, Männer zu verführen. Diese Verlockung drohe wiederum, die gesamte islamische Gemeinschaft ins Chaos zu stürzen. Daraus leiten Salafisten die unmittelbare Pflicht der Frau ab, sich zu verhüllen: Sie soll ihr Haar und ihre Körperform bedecken, wenn sie das Haus verlässt oder auf Männer trifft, die nicht zur Familie gehören. In der Regel gilt das auch für das Gesicht, einige Salafisten fordern gar das Tragen von Handschuhen. Weibliche Schönheit geht hier mit daraus vermeintlich resultierenden Gefahren einher, was Maßnahmen zum Verbergen dieser Schönheit nach sich zieht.

Fürsorge: zwischen Sport und Verzicht

Weil der Körper nach salafistischer Auffassung ein von Gott anvertrautes Gut ist, sind alle Menschen dazu angehalten, fürsorglich mit ihm umzugehen. Die oberste Maxime lautet: Richte keinen Schaden an. Alles, was Salafisten als potenziell schädlich für den Körper ansehen, wird abgelehnt beziehungsweise verboten, etwa Alkohol und Betäubungsmittel. Beides, so die salafistische Argumentation, würde nicht nur die Person schädigen, die diese Dinge konsumiert, auch deren Familie und schlussendlich die gesamte Gemeinschaft würden leiden. Hierbei stützen sich die Salafisten ebenfalls auf ein Hadith. So soll der Prophet die Gläubigen dazu aufgerufen haben, niemandem zu schaden.

Das von Salafisten gezeichnete Körperbild wird derzeit zunehmend mit Sport verbunden. Auf Social-Media-Plattformen geben salafistische Akteure Tipps fürs Training. Zuweilen wird der Spaßcharakter in Szene gesetzt – zum Beispiel mit Blick auf gemeinschaftliches Fußballspielen. Manchmal wird Sport auch zu Selbstverteidigungszwecken beworben. Eltern werden aufgefordert, ihren Kindern Kampfsport wie beispielsweise Karate zu ermöglichen, denn: „Die eigene Verteidigung ist heute ein muss für unsere kleinen Löwen“, wie es in einem Telegram-Kanal heißt.

Telegram-Nachricht Kampfsport

Textteil einer Telegramnachricht zum Bild eines trainierenden Kindes. (Foto: Telegram-Kanal „Ummah Kids“)

Gottesdienst: der Körper als Instrument

Schließlich erachtet die salafistische Ideologie den Körper als bedeutend für den Gottesdienst. Viele gottesdienstliche Handlungen verlangen neben einer bestimmten Geisteshaltung nach körperlichem Einsatz. Ein Beispiel ist im Islam das Fasten, also der Verzicht vor allem auf Nahrung und Getränke zu bestimmten Zeiten von Sonnenaufgang bis -untergang. So ist das Fasten im Monat Ramadan, der sich am Mondkalender ausrichtet, bis auf wenige Ausnahmen für alle Muslime obligatorisch. Hierzu haben Salafisten besonders strenge Ansichten. Immer wieder beschäftigen sie sich mit der Frage, welche Handlungen das Fasten brechen beziehungsweise ungültig machen. So sollten Schwimmen und Tauchen während des Fastens vermieden werden, weil die Gefahr bestehe, Wasser zu verschlucken: „Wenn das passiert, dann ist dein Fasten gebrochen“, heißt es etwa in einem salafistischen YouTube-Video. Die Impfung gegen das COVID-19-Virus sei hingegen unbedenklich, weil es eine medizinische Injektion sei und mit ihr keine Nährstoffe in den Körper gelangten. Wenn man aufpasse, sei auch das Zähneputzen vom Fasten ausgenommen.

Ein weiteres relevantes Feld ist die Sexualität. So argumentieren Salafisten, dass das Ausleben von Sexualität eine Art Gottesdienst sein könne. Hierbei müsse der Gläubige, laut salafistischer Glaubenslehre die „aufrichtige Absicht“ verfolgen, den Geschlechtsverkehr zum „Wohlgefallen Allahs“ durchzuführen, also zum Beispiel um die gesamte islamische Gemeinschaft (umma) zu vergrößern, weswegen Salafisten auch Verhütung grundsätzlich als problematisch erachten. Daneben existieren weitere Bedingungen: zuvorderst die Ehe als Rahmen, in dem die sexuellen Handlungen erfolgen sollen. Weil Salafisten nur die Ehe zwischen Mann und Frau als legitim erachten, lehnen sie gleichgeschlechtlichen Verkehr ab. Auch Masturbation ist demnach verboten.

Körperbasiertes Denken: Salafistische Utopie und Realität

Die geschilderten körperbetonten Appelle richten sich primär an die salafistische Anhängerschaft und ergehen zum Beispiel in Predigten, YouTube-Videos oder durch Online-Fatwa-Dienste. In Deutschland lebende Salafisten sollen erfahren, wie sie sich zu verhalten haben – außerhalb der Szene entfalten diese Vorstellungen kaum Relevanz. Was passiert aber, wenn Salafisten die Hoheit über ein Staats- und Gesellschaftssystem haben? Was passiert, wenn sie ihre Utopie einer streng islamischen Gesellschaftsordnung realisieren? 

Unter anderem der „Islamische Staat“ (IS) hat gezeigt, welche Folgen dieses körperbasierte Denken für den Alltag unter salafistischer Herrschaft haben kann. Im sogenannten Kalifat war eigens eine Religionspolizei für die Einhaltung der Vorgaben verantwortlich. So wurden Frauen, die die Verhüllung nicht wie vom IS verlangt umgesetzt hatten, verfolgt und drangsaliert: Sie wurden ausgepeitscht, wenn sie in der Öffentlichkeit Makeup trugen, oder inhaftiert, sobald die Kleidung nicht den Vorgaben des IS entsprach. Zigaretten ließ die IS-Führung medienwirksam vernichten. Menschen, die während des Ramadans gegen die Fastenregeln verstoßen hatten, wurden sogar gekreuzigt. Auch das Sexualleben der Kalifatsbewohner wurde reglementiert: Während es IS-Anhängern gestattet war, mit ihren Sklavinnen zu verkehren, wurden homosexuelle Männer, oder auch bloß als solche erachtete, von Häusern gestürzt. 

Körper und Ideologie: Relevanz für den Verfassungsschutz

Salafisten können über den Körper Gruppenkonformität herstellen: Wer zur Szene gehören will, muss seinen Körper nach ihren Vorstellungen behandeln. Gleichzeitig ermöglichen die Vorgaben Abgrenzung von „den Anderen“: Wer den Apellen zum Umgang mit dem eigenen Körper nicht folgt, wird als Sünder abgestempelt und zuweilen gar entmenschlicht; so werden etwa Menschen mit abweichenden Sexualpraktiken als Tiere angesehen. Darüber hinaus zementiert das salafistische Körperbild die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern: Weil ihre körperliche Attraktivität gefürchtet wird, muss sich die Frau radikal unterordnen – die Kleidervorschriften stehen sinnbildlich dafür. Und schließlich dient das Körperbild der Realisierung der salafistischen Utopie: Die Ge- und Verbote bieten Orientierung, ihre Umsetzung zeigt, wie weit die angestrebte Verwirklichung des Wunschbilds bereits vorangeschritten ist.

Für den Verfassungsschutz ist der Blick auf die Verschränkung von Ideologie und Körper relevant, weil sie ein Gradmesser für Demokratie sein kann: Inwiefern werden Menschen und ihre Körper unterdrückt und ausgebeutet? Inwieweit dürfen Menschen über ihren eigenen Körper bestimmen? Nicht erst die reale Umsetzung des körperbasierten Denkens im IS-Kalifat hat Konflikte mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung offenbar werden lassen. Beim Salafismus handelt es sich insgesamt um eine totalitäre Ideologie, die ohne Trennung zwischen Privat und Öffentlich über den Körper jedes Einzelnen bestimmen will. Insofern steht der Salafismus für ein totales Aufgehen des Individuums in einem „Umma-Körper“.

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