ISLAMISMUS

Sozialdatenanalyse 2023 zum Salafismus in Baden-Württemberg

Kleiner, älter und missionarischer: Die salafistische Szene in Baden-Württemberg ist im Wandel, wie die Sozialdatenanalyse des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Baden-Württemberg zum Jahr 2023 zeigt. Die Zahlen geben Aufschluss über die Zusammensetzung des Milieus. Der tatsächliche Frauenanteil unter Salafisten bleibt jedoch weitestgehend im Dunkeln.

Wie setzte sich die salafistische Szene mit Blick auf Alter und Geschlecht im Südwesten zusammen? Wie verteilt sich das Personenpotenzial auf den politischen und jihadistischen Salafismus? Darüber geben hier zunächst die Sozialdaten zum Salafismus in Baden-Württemberg für 2023 Auskunft. Im Anschluss werden die aktuellen Erkenntnisse des Landesamtes für Verfassungsschutz mit den beiden Vorjahren verglichen: Welche Trends lassen sich ablesen? Abschließend folgt ein Blick auf die Studienergebnisse der Befragung „Menschen in Deutschland“ (MiD) von Universität Hamburg und MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung), die sich unter anderem mit islamismusaffinen[1] Einstellungen in Deutschland beschäftigt hat. Die MiD-Befragung misst islamismusaffine Einstellungen unter in Deutschland lebenden Muslimen. Im Fokus steht bei MiD damit der Phänomenbereich Islamismus im Allgemeinen, während die Sozialdaten sich auf eine spezifische islamistische Strömung, den Salafismus, beziehen.[2]

Grundsätzlich unterscheiden sich beide Ansätze dadurch, dass es beim MiD um die erwähnten Einstellungen geht, wohingegen bei der Sozialdatenanalyse des LfV BW Bestrebungen in Verbindung mit dem gesetzlichen Auftrag des Verfassungsschutzes und damit Handlungen im Fokus stehen. Zugleich beschäftigt sich MiD mit dem Mobilisierungspotential von Muslimen für den Islamismus. Eine zweite, für den Verfassungsschutz aber genauso relevante, Gruppe im Bereich Islamismus ist damit nicht abgedeckt: Jene der nicht muslimischen Personen, die in Zukunft in die salafistische Szene hineinkonvertieren werden. Dennoch kann eine Verschränkung der Sozialdaten Salafismus mit MiD gewinnbringend sein, vor allem bei voneinander abweichenden Beobachtungen. 

Die salafistische Szene schrumpft – das Personenpotenzial bleibt aber hoch

Im Vergleich zu den beiden Vorjahren 2021 und 2022 ist zunächst auf eine Veränderung des Personenpotenzials hinzuweisen: 2023 beträgt es 1200 Salafisten und Salafistinnen. Damit scheint sich der Trend aus den Vorjahren umgekehrt zu haben. Bis 2020 wuchs die Szene beständig, seit nunmehr zwei Jahren jedoch nur noch marginal. 2022 wurden 1350 Personen der salafistischen Szene zugerechnet.

Insofern ist ein leichter Rückgang, auf einem aber noch immer hohen Niveau, festzustellen. Bereits in den vergangenen Jahren war deutlich geworden, dass der Salafismus an Anziehungskraft verloren hat. Zugleich könnte der Rückgang der dokumentierten Zahlen mit der Corona-Pandemie zusammenhängen: Der verstärkte Rückzug ins Private macht salafistische Aktivitäten teils weniger sichtbar. 

Die 30- bis 39-Jährigen dominieren weiterhin die Szene

Wie in den beiden Vorjahren stellen auch 2023 die 30- bis 39-Jährigen die größte Alterskohorte für die salafistische Szene. Ihr Anteil am Personenpotenzial ist sogar auf 36 Prozent (2021: 34 Prozent; 2022: 35 Prozent) gewachsen. Analog zu den Vorjahren folgen anteilsmäßig die 20- bis 29-Jährigen und anschließend die 40- bis 49-Jährigen. Auffällig dabei ist: Während die Gruppe der 20- bis 29-Jährigen beständig kleiner wird (2021: 31 Prozent; 2022: 27 Prozent; 2023: 26 Prozent), ist bei den 40- bis 49-Jährigen eine leichte Zunahme zu beobachten (2021: 19 Prozent; 2022 und 2023: 21 Prozent). Für die Gruppe der 14- bis 19-Jährigen liegt der Anteil am Personenpotenzial wie in den vergangenen Jahren bei lediglich unter einem Prozent. In der Gesamtschau ist damit festzuhalten, dass die Szene, bei gleichbleibender Rangfolge der Altersgruppen, insgesamt leicht altert.

 Sozialdatenanalyse Salafismus 2023: Altersstruktur
Der Anteil der 30- bis 39-Jährigen am Personenpotenzial wächst erneut, wie die Sozialdatenanalyse zum Salafismus 2023 des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Baden-Württemberg zeigt. Diese Altersgruppe dominiert die salafistische Szene in Baden-Württemberg.

In der MiD-Studie wurden von der LfV-Sozialdatenanalyse abweichende Altersgruppen betrachtet. Dabei stellten die Autoren fest, dass 36,2 Prozent der 18- bis 39-Jährigen Muslime in Deutschland offen für Islamismus sind oder klar islamismusaffine Einstellungen aufweisen. Bei den 40- bis 59-Jährigen traf das auf 23,4 Prozent zu, bei den über 60-Jährigen auf 17 Prozent. Insofern verdeutlicht die MiD-Studie, dass das größte islamistische Mobilisierungspotenzial bei den unter 40-Jährigen besteht. Das deckt sich mit der Sozialdatenanalyse – weil Männer und Frauen zwischen 20 und 39 Jahren insgesamt 62 Prozent des salafistischen Personenpotenzials ausmachen. Bei der Altersverteilung ergibt der Blick auf einerseits die Einstellungs- und andererseits die Handlungsebene damit ein relativ stimmiges Bild. 

Worte statt Waffen: Missionierung als Hauptstrategie 

Politische Salafisten, die auf Missionierung setzen, um das Ziel einer islamischen Gesellschaftsordnung zu erreichen, machen aktuell 56 Prozent des Personenpotenzials im Südwesten aus. Dem gegenüber stehen 36 Prozent jihadistische Salafisten. Sie wollen die islamische Gesellschaftsutopie mit Gewalt realisieren. Etwa acht Prozent der Salafisten sind nicht eindeutig der politischen oder jihadistischen Strömung zuzurechnen und befinden sich in einer dazwischen liegenden Grauzone. Das verdeutlicht die teilweise fließenden Übergänge zwischen den beiden Strömungen.

Sozialdatenanalyse Salafismus 2023: Aufteilung Personenpotenzial
Der Politische Salafismus macht mit 56 Prozent des Gesamtpersonenpotenzials in Baden-Württemberg den größten Anteil der salafistischen Szene aus, so die Sozialdatenanalyse 2023.

Im Jahresvergleich ist für die gewählten Strategien bislang kein Trend ablesbar. Während die politischen Salafisten 2021 noch 55 Prozent ausmachten, waren es 2022 dann 51 Prozent. Dahingegen waren 37 Prozent der Salafisten 2021 Jihadisten, während es ein Jahr später 42 Prozent waren. Insofern stellt das Jahr 2022 nach oben hin einen Ausreißer dar, der aktuell jedoch nicht erklärt werden kann. Der Graubereich zwischen Politischem Salafismus und Jihadismus blieb mit acht Prozent in 2021 und sieben Prozent im Folgejahr relativ stabil.

Vergleichbar zum gewaltbereiten Jihadismus und dem Graubereich ermittelte die MiD-Studie das Gesamtpotenzial derjenigen Personen, die mindestens offen für islamistisches Gedankengut sind und gleichzeitig zumindest in niedrigem Maß islamistisch motivierte Gewalt akzeptieren. Unter den befragten Muslimen und Musliminnen lag der Anteil hier bei 12,1 Prozent. Anders betrachtet bedeutet das: Die wenigsten Personen, die islamismusaffin eingestellt sind, befürworten Gewalt. Das deckt sich mit der LfV-Sozialdatenanalyse, wenngleich das Verhältnis zwischen Gewaltanwendern und Missionierern hier ausgeglichener ist. Eine Erklärung dafür könnte die grundsätzliche Gewaltaffinität im Salafismus sein: Auch wenn politische Salafisten selbst keine Gewalt anwenden, stehen sie ihr nicht generell ablehnend gegenüber. Die Übergänge zwischen beiden Strömungen sind fließend und eine fortschreitende individuelle Radikalisierung hin zum gewalttätigen jihadistischen Salafismus erscheint damit möglich.

Stark unausgeglichenes Geschlechterverhältnis

Wie im vergangenen Jahr machen 2023 Frauen 10 Prozent der salafistischen Szene aus. Der leichte Zuwachs von 2021 auf 2022 um damals zwei Prozentpunkte hat sich nicht fortgesetzt. Wird der Frauenanteil mit dem Alter verschränkt, ist festzustellen, dass das ausgeglichenste Geschlechterverhältnis in der Kohorte der 14- bis 19-Jährigen besteht. Doch gilt auch für 2023: Weil der Anteil dieser Altersgruppe an der Szene weiterhin unter einem Prozent liegt, besitzt das Geschlechterverhältnis hier kaum Aussagekraft. Hinsichtlich Frauenanteil in den Altersgruppen folgen die 40- bis 49-Jährigen (12 Prozent Frauen, 88 Prozent Männer), die 30- bis 39-Jährigen und die 60- bis 69-Jährigen (jeweils 11 Prozent Frauen, 89 Prozent Männer) sowie die 20- bis 29-Jährigen (10 Prozent Frauen, 90 Prozent Männer). Rein zahlenmäßig sind die meisten Frauen jedoch in der Kohorte der 30-bis 39-Jährigen (37 Prozent aller salafistischen Frauen) zu finden, gefolgt von den 20- bis 29-Jährigen (26 Prozent) und 40- bis 49-Jährigen (ebenfalls 26 Prozent). Das deckt sich mit dem Vorjahr. Verschränkt man das Geschlechterverhältnis außerdem mit der Frage der Strategie, sind 69 Prozent der Frauen im politischen Salafismus angesiedelt – gegenüber 52 Prozent der Männer. 28 Prozent der Frauen gehören dem jihadistischen Salafismus an; bei den Männern sind es 38 Prozent.

Sozialdatenanalyse Salafismus 2023: Geschlechteranteile
Bei den Frauen in der salafistischen Szene Baden-Württembergs gabe es – anders als im Vorjahr – keine Zunahme. Sie sind, laut Sozialdatenanalyse 2023, aktuell mit einem Anteil von zehn Prozent vertreten.

Im Rahmen der MiD-Studie wurde festgestellt, dass eindeutig islamismusaffine Einstellungen bei muslimischen Frauen tendenziell etwas häufiger (10,2 Prozent) zu beobachten sind als bei Männern (8,5 Prozent). Gleichzeitig zeigen sich muslimische Männer jedoch überdurchschnittlich häufiger offen für islamistische Haltungen (22,7 Prozent) als Frauen (16,6 Prozent). Insgesamt sind damit bei 26,8 Prozent der Frauen und 31,2 Prozent der Männer Einstellungen zu finden, die eine Offenheit für islamistisches Gedankengut zeigen. Damit sind bei den Ergebnissen zu den Geschlechterverhältnissen die größten Abweichungen zwischen der MiD-Studie und der Sozialdatenanalyse des LfV BW zu beobachten. Wahrscheinlich machen die abweichenden MiD-Zahlen deutlich, dass mehr Frauen Teil der Szene sind als bisher erkannt wurden. Ein Aspekt könnten hierbei fehlende Zugänge sein, zum Beispiel zu Frauennetzwerken. Ein anderer betrifft möglicherweise die in der salafistischen Ideologie begründete Beschränkung der Frau auf das häusliche Umfeld: Das salafistische Engagement vieler Frauen spielt sich als Ehefrau und Mutter wahrscheinlich in den eigenen vier Wänden ab. Das erschwert die Beobachtung durch den Verfassungsschutz, denn die Versorgung des Ehemannes und die Kindererziehung ist nicht als verfassungsfeindliche Bestrebung im Sinne des Verfassungsschutzgesetzes zu verstehen. 

Fazit: Alter, Missionierung, Frauen – welche Schlüsse folgen?

Im Vergleich zu den Vorjahren bleibt die Altersstruktur der salafistischen Szene relativ stabil mit einer leichten Tendenz zur Alterung. Die größte Altersgruppe machen nach wie vor die 30- bis 39-Jährigen aus. Gleichzeitig beobachtet das LfV, dass Da’wa-Formate etwa auf TikTok zunehmen, die vor allem Jugendliche ansprechen und missionieren sollen, die Konsumenten salafistischer Propaganda sind ohne dabei groß an anderen Stellen in Erscheinung zu treten – weshalb auch die Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen mit unter einem Prozent so gering ist. Hier bleibt zu beobachten, inwiefern sich solche Strategien zur Jugendansprache in den nächsten Jahren auf die Altersstruktur der salafistischen Szene auswirken werden.

Festzustellen ist, dass vor allem vom vergangenen auf das aktuelle Jahr Da’wa-Aktivitäten zugenommen haben, während zugleich die Beteiligung am Jihadismus abnahm. Salafisten setzen aktuell stärker auf Worte als auf Waffen. In der Vergangenheit haben sich einzelne Akteure zudem bereits deutlich auf das politische System hin ausgerichtet und zum Beispiel vor dem Bundesverfassungsgericht für ihre Rechte geklagt. Hieraus könnte in Zukunft eine Art legalistischer Salafismus entstehen, der eine begrenzte politische oder zivilgesellschaftliche Teilnahme nicht ablehnt.

Mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse ist nach wie vor von einem hohen Dunkelfeld an weiblichen Szeneangehörigen auszugehen. Es geht künftig also nicht nur darum Salafistinnen, die öffentlichkeitswirksam agieren, im Blick zu haben, sondern auch diejenigen Frauen, die im Privaten eine verfassungsfeindliche salafistische Weltsicht an ihre Kinder weitergeben.


[1] In der Studie wird zwischen unterschiedlichen Ausprägungen von islamismusaffinen Einstellungen unterschieden: eindeutig islamismusaffinen Einstellungen und Offenheit für islamistische Haltung.
[2] Die MiD-Befragung wurde im Herbst 2021 durchgeführt, der Stichtag für die Sozialdaten des LfV war der 1. Januar 2023. Zwischen beiden Untersuchungen lag also etwas mehr als ein Jahr.

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