Auslandsbezogener Extremismus

Die „Schicksalswahlen“ in der Türkei und ihre Auswirkungen auf Baden-Württemberg

Am 14. Mai 2023 haben in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattgefunden, an denen auch in Deutschland lebende türkische Staatsangehörige teilnehmen konnten. In einer Stichwahl am 28. Mai hat sich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan als Staatspräsident durchgesetzt. In Deutschland hatten vor den Urnengängen auch Anhänger mehrerer extremistischer Organisationen, die türkischen Parteien nahestehen, für die Stimmabgabe geworben. Der verschärfte Wahlkampf in der Türkei dürfte eine Ursache für die zum Teil unfriedlichen „Siegesfeiern“ in Mannheim und Stuttgart nach dem Wahlausgang gewesen sein.

Zum ersten Mal in der über 20-jährigen Regierungszeit der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bestand für die Oppositionsparteien die realistische Aussicht auf einen Wahlerfolg bei der Entscheidung über den künftigen Staatspräsidenten und die Zusammensetzung des türkischen Parlaments. Der Wahlkampf war enorm polarisiert; Regierung und Opposition warfen einander gar „Vaterlandsverrat“ und „Putschversuch“ vor. Über Verbalattacken hinaus schlug die Polarisierung in der angespannten Stimmung vereinzelt in Gewalt um. So kam es in den Wochen vor den Urnengängen zu mehreren Angriffen auf Wahlstände, Versammlungen und Gebäude oppositioneller Parteien.

Auch im Ausland lebende türkische Staatsangehörige waren zur Stimmabgabe in konsularischen Vertretungen berechtigt; in Deutschland waren das insgesamt circa 1,4 Millionen. Die in Baden-Württemberg lebenden rund 250.000 Stimmberechtigten konnten in Karlsruhe und Stuttgart an den Urnengängen teilnehmen. Hiervon nahm rund die Hälfte ihr Wahlrecht in Anspruch. 

Zwei Kandidaten – drei Allianzen

Für das Amt des Staatspräsidenten traten mehrere Kandidaten gegen Amtsinhaber Erdoğan (AKP) an. Insbesondere dem Oppositionsführer und Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP) Kemal Kılıçdaroğlu wurden große Chancen auf einen Wahlsieg eingeräumt, letztlich unterlag er aber in der Stichwahl am 28. Mai. In Karlsruhe stimmten 33 Prozent für Kılıçdaroğlu und 67 Prozent für Erdoğan. In Stuttgart holte der Herausforderer 29 Prozent und der Amtsinhaber 71 Prozent der Stimmen.

Aufgrund des türkischen Wahlrechts, das unter anderem eine Hürde von sieben Prozent für den Einzug in das Parlament vorsieht, hatten sich die meisten Parteien zu drei großen Allianzen zusammengeschlossen. Die regierende AKP führte die „Volksallianz“ an, während sich mehrere Oppositionsparteien in der „Allianz der Nation“ unter Führung der CHP zusammengeschlossen hatten. Pro-kurdische und sozialistische Parteien waren Teil des dritten Bündnisses, der „Allianz für Arbeit und Freiheit“.

Generell stand die „Systemfrage“ im Raum: Während das AKP-geführte Regierungsbündnis das Präsidialsystem verteidigte, strebten die beiden oppositionellen Allianzen die Rückkehr zum Parlamentarischen System an. Aufgrund des Streits um die Systemfrage, ideologischer Gegensätze und des erwarteten knappen Wahlausgangs wurde der Urnengang als richtungsweisende Schicksalswahl für die Türkei angesehen.

Extremistische Organisationen und ihre Nähe zu türkischen Parteien

In Baden-Württemberg haben extremistische Organisationen mit Türkeibezug insgesamt knapp 7.000 Anhänger. Sie weisen mitunter eine große Nähe zu einzelnen türkischen Parteien auf. Daher waren sie im Wahlkampf für ihre „Mutterparteien“ beziehungsweise für diejenigen Parteien aktiv, denen sie jeweils nahstehen. Das zeigte sich in öffentlichen Aufrufen zur Wahlbeteiligung etwa in Sozialen Netzwerken, Werbeveranstaltungen in den jeweiligen Vereinen und Versammlungshallen sowie im Bereitstellen von Bussen, die die eigenen Anhänger zu den Wahlräumen und damit an die Wahlurnen brachten.

„Volksallianz“
Vier extremistischen Organisationen in Deutschland stehen vier Mitgliedsparteien der türkischen „Volksallianz“ nahe.

Die Nähe hiesiger Organisationen zu türkischen Parteien ist dabei nicht zu unterschätzen. Zwei türkisch-rechtsextremistische Organisationen stehen in enger Beziehung zu zwei ultranationalistisch ausgerichteten Parteien der „Volksallianz“. Die „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) gilt als Mutterpartei der türkisch-rechtsextremistischen „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland“ (ADÜTDF). Der ADÜTDF gehören in Baden-Württemberg etwa 40 Vereine mit circa 2.200 Mitgliedern an. Der türkischen „Partei der Großen Einheit“ (BBP) wiederum wird die ebenfalls türkisch-rechtsextremistische „Föderation der Weltordnung in Europa“ (ANF) zugeordnet. In Baden-Württemberg sind etwa 50 Mitglieder in drei ANF-Ortsvereinen aktiv.

„Nationale Allianz“
Eine extremistische Organisation in Deutschland weist Nähe zu einer Mitgliedspartei der „Nationalen Allianz“ in der Türkei auf.

Daneben traten mehrere islamistisch geprägte Parteien zur Wahl an. Zwei Parteien sind der türkisch-islamistischen „Millî Görüş“-Bewegung zuzurechnen, deren etwa 2.260 Anhänger in Baden-Württemberg unter dem Dachverband „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V.“ (IGMG) sowie in Regionalverbänden der „Saadet Partisi“ (SP) organisiert sind. Zur „Millî Görüş“-Bewegung bekennt sich zum einen die in der AKP-geführten „Volksallianz“ angetretene „Neue Wohlfahrtspartei“ (YRP), zum anderen die SP in der oppositionellen „Allianz der Nation“. Eine weitere islamistische Partei, die „Partei der Freien Sache“ (HÜDA PAR), war ebenfalls Teil der „Volksallianz“. HÜDA PAR wird als politischer Arm der kurdisch-islamistisch geprägten, in der Türkei als Terrororganisation verbotenen „Türkischen Hizbullah“ (TH) angesehen. Bundesweit ist von etwa 400 TH-Anhängern auszugehen.

„Allianz für Arbeit & Freiheit“
Zwischen vier extremistischen Organisationen in Deutschland und einer Mitgliedspartei der türkischen „Allianz für Arbeit & Freiheit“ besteht Nähe.

Das dritte Bündnis, die „Allianz für Arbeit und Freiheit“ wurde von der pro-kurdischen Grünen Linkspartei (YSP) angeführt. Die YSP wird als Auffangorganisation für die Kandidaten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) angesehen, denn gegen die HDP selbst läuft in der Türkei ein Verbotsverfahren wegen des Vorwurfs der Unterstützung der separatistischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK). Die PKK wiederum ist EU-weit als Terrororganisation eingestuft und in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegt. In Baden-Württemberg hat sie etwa 1.600 Anhänger in mehreren örtlichen PKK-nahen Vereinen. Ferner wurde die „Allianz für Arbeit und Freiheit“ von mehreren türkisch-linksextremistischen Organisationen unterstützt, die in Baden-Württemberg etwa 640 Anhänger haben. So veröffentlichte beispielsweise die „Konföderation der ArbeiterInnen aus der Türkei in Europa“ (ATİK) am 21. April 2023 eine Erklärung, in der sie dazu aufforderte im türkischen Wahlkampf die „Allianz für Arbeit und Freiheit“ zu unterstützen. Die ATİK gilt als Umfeldorganisation der „Kommunistischen Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten“ (TKP/ML).

„Siegesfeiern“ in Baden-Württemberg

Unmittelbar nach der Wahl versammelten sich bundesweit an zahlreichen Orten Anhänger des wiedergewählten Präsidenten Erdoğan zu spontanen Autokorsos und Kundgebungen. Hierbei kam es neben Ruhestörungen und anderen Verstößen zu Provokationen durch Außenstehende. In Mannheim standen sich mehrere Hundert pro-türkische und pro-kurdische Personen gegenüber. Zwischen den beiden Gruppen kam es zuerst zu mündlichen Auseinandersetzungen, die dann in körperliche Gewalt mündeten. Es wurden Symbole des türkischen Rechtsextremismus beobachtet, wie zum Beispiel der „Wolfsgruß“. Auch in Stuttgart verliefen die „Siegesfeiern“ nicht friedlich. Eine Personengruppe ging ein Fahrzeug eines Autokorsos an; anschließend kam es zu einem Tumult, bei dem drei Personen zum Teil schwere Stichverletzungen erlitten. Daraufhin kündigte die PKK-nahe Jugendszene des Großraums Stuttgart eine „Diskussionsrunde zur aktuellen Lage“ an, verbunden mit dem Aufruf „politisch aktiver“ zu werden.

Bewertung

Grundsätzlich haben die vergangenen Wahlen in der Türkei erneut gezeigt, dass sich viele Bürger und Bürgerinnen mit türkischem beziehungsweise kurdischem Migrationshintergrund weiterhin mit den politischen Parteien ihrer Herkunftsregionen identifizieren. Der Wahlkampf an sich verlief in Baden-Württemberg relativ störungsfrei, auch wenn sich die angespannte Stimmung in der Türkei auf die hiesige türkisch- und kurdischstämmige Bevölkerung übertragen hatte. Der nicht friedliche Verlauf der „Siegesfeiern“ in Mannheim und Stuttgart ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass in beiden Städten einerseits ein relativ großes türkisch-nationalistisches Personenpotenzial und andererseits ein starkes kurdisch-nationalistisches Personenpotenzial ansässig ist. Insbesondere im Großraum Stuttgart existieren zudem mehrere aktive, türkisch-rechtsextremistische und PKK-nahe Vereine. Auch in Mannheim sind diese beiden extremistischen Szenen mit eigenen Vereinen vertreten.

Anhänger auslandsbezogener extremistischer Organisationen sind in der Regel zunächst um ein legales Verhalten bemüht, da sie Deutschland als sicheren Rückzugsraum betrachten und diesen nicht gefährden wollen. Jedoch belegen die Vorfälle rund um die Wahlen in der Türkei, wie gesellschaftliche und politische Entwicklungen in der Herkunftsregion durch hiesige Extremisten instrumentalisiert werden und sicherheitsrelevante Dynamiken in Deutschland auslösen können – zumal in einem bundesweiten Schwerpunktland des Auslandsbezogenen Extremismus wie Baden-Württemberg.

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