Rechtsextremismus

„Alte Lieder der jungen Revolution“ – zwei neonazistische Liederbücher von 2020


Unter „zeitgemäßen“ rechtsextremistischen Propaganda- und Rekrutierungsmitteln dürften vielen Menschen entsprechende Internetangebote oder auch rechtsextremistische Musik in Form von CDs oder Konzerten verstehen. Doch Rechtsextremisten greifen auch heute noch zu althergebrachten Medien, um ihre Ideologie an (potenzielle) Gesinnungsgenossen zu bringen und gemeinsame Narrative oder ideologische Selbstvergewisserung in der Szene zu verbreiten. Ein Beispiel war, gerade in den letzten Jahren, die Veröffentlichung von neuen, eindeutig rechtsextremistischen bis neonazistischen Romanen.[1] 2020 erschienen in der Neonaziszene zudem zwei Liederbücher mit einschlägigem Inhalt, die bei näherer Analyse ihren rechtsextremistischen, konkret neonazistischen Charakter offenbaren.

Die Liederbücher

a.  „Stimmen der Revolution“

Dieses Liederbuch erschien 2020 ausdrücklich in „1. Auflage“, was den Willen der Verantwortlichen impliziert, bei Bedarf auch weitere Auflagen zu veröffentlichen. Allerdings wird es offenbar aktuell (Mai 2021) nicht mehr vertrieben. Ein Erscheinungsort wird nicht genannt; eine Art Impressum auf der nicht nummerierten Innenseite des Buchcovers beinhaltet lediglich den Hinweis „Gedruckt in der Bundesrepublik Deutschland“. Als „Herausgeber“ und unter dem Punkt „Autor, Satz und Gestaltung“ ist eine Person aus Baden-Württemberg angegeben, die auch für die „Umschlaggestaltung“ verantwortlich zeichnet. Zudem werden drei „Mitwirkende“ aufgeführt.

„Stimmen der Revolution“ ist eindeutig dem offenbar 2019 ins Leben gerufenen neonazistischen Projekt „Junge Revolution“ (JR) zuzurechnen. Die JR sieht sich selbst als „Unterstützer“ von Jugendlichen und Heranwachsenden und versucht, diese für verschiedene Parteien, Gruppen und Medienprojekte innerhalb der rechtsextremistischen Szene zu rekrutieren. Es handelt sich also um eine Art organisationsübergreifendes Rekrutierungsbüro für junge Rechtsextremisten/Neonazis. Die JR ist stark innerhalb der deutschen, aber auch europaweiten rechtsextremistischen Szene vernetzt. Ihr neonazistischer Charakter offenbart sich u. a. darin, dass sie immer wieder auf die „Hitlerjugend“ (HJ) Bezug genommen hat, z. B. mit dem Vertrieb von einschlägigen T-Shirt-Motiven. Das Emblem der JR[2] ist nicht nur auf dem Cover des Buches abgedruckt, sondern findet sich auch auf jeder einzelnen Seite als Hintergrundmotiv. Der baden-württembergische Herausgeber und Autor des Liederbuches war zumindest noch 2020 in der JR engagiert. Bei mindestens einem seiner drei „Mitwirkenden“ handelt es sich sogar um einen führenden Protagonisten der JR, ihren Gründer, der allerdings nicht aus Baden-Württemberg kommt.

Der Begriff „Liederbuch“, den die Macher selbst wiederholt für ihre Publikation verwenden, ist eigentlich übertrieben: Mit nur 32 Seiten (zuzüglich Impressum und Inhaltsverzeichnis) und Heftbindung hat „Stimmen der Revolution“ eher Heft- oder Broschürencharakter. Auch inhaltlich ist das Werk eher dünn: Es enthält lediglich 22 Liedtexte. Angaben über Texter oder Komponisten werden nicht gemacht. Auch Noten sind nicht abgedruckt, so dass der Leser die Melodien der Lieder aus dem Heft bereits kennen oder sich anderweitig beschaffen muss.

b.  „Sing mit, Kamerad!“

Das Liederbuch mit dem Untertitel „Lieder der Nationalrevolutionären Bewegung“ nennt ebenfalls keinen konkreten Erscheinungsort. Auf der letzten Seite ist unter „V.i.S.d.P.:/imprint“ lediglich der Name des laut Internetangaben im Juni 2020 verstorbenen australischen, in Deutschland geborenen Geschichtsrevisionisten Fredrick Gerald Töben[3] genannt, samt einem Postfach in Adelaide. Direkte Angaben zum Autor oder Herausgeber von „Sing mit, Kamerad!“ werden nicht gemacht.

Schon aufgrund der fehlenden Angaben gestaltet sich die organisatorische Zuordnung des Liederbuchs schwierig, auch das Layout lässt keine eindeutigen Rückschlüsse auf eine Organisation zu. Das auf der (nicht nummerierten) Seite 3 abgedruckte Symbol – Hammer und Schwert, die miteinander gekreuzt sind – deutet eher unspezifisch auf einen neonazistischen Hintergrund hin. Es wird in der Neonaziszene seit Jahrzehnten öfter verwendet. 

Allerdings fällt auf, dass auf Seite 34 von „Sing mit, Kamerad!“ Text und Noten des Liedes „DER III. WEG marschiert“ stehen. Es handelt sich um eine Art Parteihymne der 2013 in Heidelberg gegründeten neonazistischen Kleinpartei „DER DRITTE WEG“ („Der III. Weg“).[4]  Außerdem hat die Partei seit Ende April 2020 auf ihrer Homepage unter der Sammelüberschrift „Sing mit, Kamerad!“ mehrere Liedtexte samt Videos veröffentlicht, zuletzt am 21. April 2021 (Stand 3. Mai 2021). Jedoch ist nicht jedes der Lieder von der Parteihomepage auch in dem Liederbuch zu finden. Ein letzter, wenn auch schwacher Hinweis auf die Provenienz des Buches ist der Umstand, dass die grüne Grundfarbe des Einbands an die Parteifarben von „Der III. Weg“ erinnert. 

Vom Umfang her erfüllt „Sing mit, Kamerad!“ weit eher die Erwartungen an ein Buch als „Stimmen der Revolution“: Es hat 73 durchnummerierte Seiten, hinzu kommen am Ende drei Seiten ohne Nummerierung. Dementsprechend ist auch der Inhalt weit umfangreicher – mit insgesamt 55 Liedtexten, die meisten mit Noten. Fast ausnahmslos werden auch konkrete Angaben zu Texter („Worte“) und Komponist („Weise“) der Lieder gemacht. 
Die Lieder in „Sing mit, Kamerad!“ sind, anders als in „Stimmen der Revolution“, nach Kategorien in verschiedene Kapitel eingeteilt: „Weihelieder“ (S. 5–13; acht Lieder), „Soldatenlieder“ (S. 15–23; acht Lieder), „Kampflieder“ (S. 25–39; 13 Lieder), „Heimatlieder“ (S. 41–53; zwölf Lieder) und „Fahrtenlieder“ (S. 55–69; 14 Lieder). Den Abschluss bildet ein Kapitel „Gitarrengriffe“ (S. 71–74).

Liederbücher von der Szene für die Szene – warum?

Beide Liederbücher enthalten neben den abgedruckten Liedtexten nur extrem kurze Begleittexte, die wenigstens ansatzweise Auskunft über die Intentionen der Publikationen bzw. ihrer Macher geben könnten. Diese Begleittexte sind so kurz, dass sie hier vollständig dokumentiert werden können.

Auf dem Cover von „Stimmen der Revolution“ steht neben dem Titel noch zu lesen: „Alte Lieder der jungen Revolution – Lasst uns junge Leute die alten Lieder singen.“ Links neben dem JR-Emblem – und damit zumindest indirekt im Zusammenhang damit – steht „Traditionsbewusste Jugend“. Im Buchinneren ist neben dem Impressum den Liedtexten eine „Widmung“ auf Seite 1 vorangestellt:

„Dieses Liederbuch ist allen politischen Gefangenen in der BRD und der Welt, den großen Generationen Deutschlands und allen Männern und Frauen, die für unser Vaterland und die deutsche Freiheit fielen, gewidmet.
Auch wollen wir in dieser Widmung nicht jene vergessen, die sich noch im Kampf ums Vaterland befinden.
Dieses Liederbuch dient dazu, diesen Personen Kraft für ihren politischen Streit zu schenken und ihnen neuen Mut zu verleihen.“ 

Das Buchcover von „Sing mit, Kamerad!“ enthält neben diesem Titel und dem Untertitel einen Vers Friedrich Schillers: „Es schwinden jedes Kummers Falten, solang des Liedes Zauber walten.“[5] Kurz vor Ende des Buches findet sich eine Seite, auf der ausschließlich folgende Verse von Ludwig Uhland abgedruckt sind:

„Singe, wem Gesang gegeben,
in dem deutschen Dichterwald!
Das ist Freude, das ist Leben,
wenn’s von allen Zweigen schallt!“[6]

Aussagekräftiger als diese Verse in diesem Zusammenhang ist ein kurzer Text auf der Rückseite von „Sing mit, Kamerad!“:

„Zu einer kulturerhaltenden, wie kulturschaffenden Bewegung gehört auch das Singen dazu. Aus dem deutschen Volk heraus gibt es einen reichen Schatz an völkischen, bündischen und soldatischen Liedern, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Mit diesem Liederbuch wollen wir die darin enthaltenen Werke wieder ins Bewusstsein der heutigen Aktivisten rufen.“

Mit den Schiller- bzw. Uhland-Zitaten spiegeln die Liederbuchproduzenten vor, den Lesern über die Animation zum Singen lediglich Trost und Freude spenden zu wollen. Dieser Eindruck lässt sich vor dem Hintergrund des Gesamteindrucks der beiden Bücher von vornherein verwerfen. Welche tatsächlichen Intentionen der jeweiligen Liederbuchproduzenten lassen sich also aus den dürren Begleittexten ablesen? Es sind im Wesentlichen zwei:

a.  Ideologietransport und Indoktrination 

Beiden Liederbüchern bzw. deren rechtsextremistischen Produzenten geht es vordergründig um Tradition in dem Sinne, altes Liedgut an heutige junge (potenzielle) Gesinnungsgenossen weiterzugeben. Das wird schon auf dem Cover von „Stimmen der Revolution“ deutlich: Hier werden „junge Leute“ direkt dazu aufgefordert, „die alten Lieder“ zu singen, und die JR wird mit der Formulierung „Traditionsbewusste Jugend“ in Verbindung gebracht. Deutlicher noch wird der Text auf der Rückseite des Liederbuchs „Sing mit, Kamerad!“: Dort ist die Rede von einem „reichen Schatz“ an Liedern, die es gilt, „nicht in Vergessenheit geraten“ zu lassen und „wieder ins Bewusstsein der heutigen Aktivisten“ zu bringen. 

An einem reinen Traditionsbewusstsein, das den Liederbuchnutzern beispielsweise deutsche Volkslieder näherbringen wollte, wäre nichts auszusetzen. Allerdings ist schon die Formulierung vom „reichen Schatz an völkischen, bündischen und soldatischen Liedern, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen“, auf der Rückseite von „Sing mit, Kamerad!“ verräterisch. Der Begriff „völkisch“ ist historisch-ideologisch eindeutig belastet: Die völkische Bewegung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, die den Begriff ursprünglich prägte, zählte zu den wichtigsten Vorgängerphänomenen, Wegbereitern und Ideologielieferanten des historischen Nationalsozialismus (NS). So sprachen manche, darunter führende Nationalsozialisten von sich selbst und ihrer Ideologie als „Völkische“ bzw. „völkisch“ – auch noch lange, nachdem die völkische Bewegung im historischen NS aufgegangen war. Der Begriff diente ihnen zuweilen sogar als Synonym für „nationalsozialistisch“. So stellte Adolf Hitler in „Mein Kampf“ – trotz aller dort auch zu findenden Kritik an den Völkischen und dem Begriff „völkisch“ – klar: „So sehr die Grundgedanken der nationalsozialistischen Bewegung völkische sind, so sehr sind zugleich die völkischen Gedanken nationalsozialistisch.“[7] Ein weiterer Beleg für die Affinität der Begriffe „völkisch“ und „nationalsozialistisch“ ist die Tatsache, dass die wohl wichtigste NSDAP-Parteizeitung bis zuletzt „Völkischer Beobachter“ hieß. 

Den Liederbuchproduzenten geht es also – wenn überhaupt – weit weniger um die Weitergabe althergebrachten deutschen Liedguts an ein jüngeres Publikum als um Ideologietransport und Indoktrination. Dies zeigen auch einige Lieder in den beiden Büchern (siehe hierzu Abschnitt 3).

b.  Politisch-ideologische Motivation 

Insbesondere die Widmung in „Stimmen der Revolution“ gibt Auskunft darüber, dass es zumindest dessen Produzenten nicht zuletzt darum geht, Gesinnungsgenossen zu politisch-ideologischem – so wörtlich – „Kampf“ und „Streit“ zu motivieren. Auf diesen Nenner lässt sich die Formulierung bringen, wonach das Liederbuch dazu diene, „diesen Personen Kraft für ihren politischen Streit zu schenken und ihnen neuen Mut zu verleihen.“ 
Gleich zu Beginn der Widmung ist zudem von „politischen Gefangenen in der BRD“ die Rede. Das lässt darauf schließen, dass nicht zuletzt Gesinnungsgenossen angesprochen werden sollen, die wegen politisch motivierter Delikte Freiheitsstrafen verbüßen. Gerade ihnen will man also „Kraft“ und „Mut“ zusprechen, letztlich, um sie auch über die Haftzeit hinaus in den Reihen der rechtsextremistischen bzw. neonazistischen Szene zu halten. Dass sie hier als politische Gefangene hingestellt werden, kommt einer moralischen Aufwertung dieser Straftäter gleich – bei gleichzeitiger Täter-Opfer-Umkehr und Dämonisierung der Bundesrepublik: Es wird insinuiert, dass es sich um eigentlich Unschuldige handele, die von einem Unrechtsregime namens „BRD“ nur aufgrund eines politischen Strafrechts in Haft gehalten würden.

Rechtsextremistische Inhalte

a.  in „Stimmen der Revolution“

Eine Durchsicht der 22 abgedruckten Liedtexte ergibt Folgendes:

  1. In dem Buch ist kein einziges Lied aus der Zeit nach 1945 enthalten.

  2. Die Liedauswahl wurde offensichtlich gezielt getroffen: Einem Leser, der mit dem Themenkomplex Rechtsextremismus/historischer NS und konkret mit den Liedern im Buch wenig bis gar nicht vertraut ist, müssen und können die rechtsextremistischen bzw. konkret nationalsozialistischen Hintergründe eines erheblichen Teils der Texte nicht sofort ins Auge fallen – und sollen es wohl auch nicht. Dieser Effekt wird zum einen dadurch erreicht, dass eigentlich ausnahmslos Lieder abgedruckt sind, deren ideologische Verortung nicht schon auf den ersten Blick klar wird (anders als es beispielsweise beim „Horst-Wessel-Lied“/„Die Fahne hoch“ der Fall wäre). Zum anderen wird durch die Nichtnennung der Komponisten verschleiert, dass es sich bei einigen von ihnen um überzeugte Nationalsozialisten handelte, die ihre Texte bzw. Kompositionen teils im ausdrücklichen Auftrag des NS-Regimes anfertigten.

  3. Andererseits fällt auf, dass über die Hälfte der 22 Lieder im weiteren Sinne Soldatenlieder sind oder/und in der einen oder anderen Weise vom Soldatendasein, Krieg und Kampf handeln. Diese Sujets werden immer wieder verharmlost, teils gar verherrlicht. Vor dem Hintergrund der prinzipiellen rechtsextremistischen bzw. neonazistischen Affinität zum Themenfeld „Kampf“ ist das ein erster Hinweis auf die Ausrichtung des Liederbuchs, auch ohne die konkreten historisch-ideologischen Hintergründe der einzelnen Lieder zu kennen.

Befasst man sich nun in einem zweiten Schritt intensiver mit den einzelnen Liedern dieses Liederbuchs, offenbart sich dessen rechtsextremistischer, konkret neonazistischer Charakter in aller Klarheit: Rund die Hälfte der Texte weist in der einen oder anderen Weise einen Bezug zum historischen NS auf. Einige Beispiele:

  1. Gleich das erste Lied „Deutschland, heiliges Wort“ (S. 2) ist das Werk der beiden NS-Funktionäre Eberhard Wolfgang Möller [8] und Georg Blumensaat. [9]
     
  2. Das zweite Lied „Wenn alle untreu werden“ (S. 3) hat zwar im Ursprung mit dem historischen NS nichts zu tun; es wurde 1814 vor dem Hintergrund der Befreiungskriege von Max von Schenkendorf geschrieben. Doch nutzte die nationalsozialistische „Schutzstaffel“ dieses Lied als ihr „Treuelied“ [10]. Das dürfte der Hauptgrund sein, warum das Lied in der Neonaziszene auch heute beliebt ist.

  3. Zudem enthält „Stimmen der Revolution“ gleich mehrere Soldatenlieder, die in den 1930er Jahren eigens für die Wehrmacht geschrieben wurden, darunter „Bomben auf Engeland“ (S. 12–13), das den Nationalsozialisten als eine Art Soundtrack und Erkennungsmelodie für den (Luft-)Krieg gegen Großbritannien – und zuvor in einer anderen Version schon für den Angriffskrieg gegen Polen – diente.

  4. Auch finden sich im Buch zwei Lieder von Hans Baumann (1914–1988) aus dessen nationalsozialistischer Schaffensperiode: „Nur der Freiheit gehört unser Leben“ (S. 26) und „Rebellen“ (S. 27). Baumann war in den Jahren der NS-Diktatur ein vom Regime hoch geehrter Dichter. 1941 wurde ihm für sein Gesamtwerk der „Dietrich-Eckart-Preis“ verliehen. Er war Autor des bekannten NS-Liedes „Es zittern die morschen Knochen“. [11]

b.  in „Sing mit, Kamerad!“

Zu den 55 Liedern in diesem Buch lässt sich festhalten:

  1. Anders als „Stimmen der Revolution“ enthält „Sing mit, Kamerad!“ auch mehrere, zum Teil rechtsextremistische Lieder aus der Zeit nach 1945. Ein Beispiel ist „DER III. WEG marschiert“ von 2016 aus der Feder des bekannten rechtsextremistischen Szenemusikers Michael REGENER, genannt „Lunikoff“, der mit insgesamt vier Liedern in dem Buch vertreten ist (S. 31, 33–34 und 38).

  2. Anders als bei „Stimmen der Revolution“ dürfte selbst einem Leser, der mit der Materie wenig bis gar nicht vertraut ist, der rechtsextremistische bzw. konkret neonazistische Charakter von „Sing mit, Kamerad!“ sofort ins Auge fallen: Das Buch enthält zumindest wenige Liedtexte, deren rechtsextremistische Aussage sich auch dem Laien sofort erschließen sollte. Zum anderen werden die Namen der Urheber in der Regel genannt. Darunter sind Personen, die als historische Nationalsozialisten oder aktuelle Rechtsextremisten relativ bekannt oder leicht zu recherchieren sind, etwa der bundesweit bekannte rechtsextremistische Liedermacher Frank RENNICKE. Von ihm ist ein eigenes Lied abgedruckt, außerdem wird er bei zwei Liedern als Komponist genannt (S. 17, 30 und 35). 

  3. Auch ein erheblicher Teil der 55 Lieder in „Sing mit, Kamerad!“ sind im weiteren Sinne Soldatenlieder oder enthalten zumindest Motive von Soldatendasein, Krieg und Kampf, wobei auch hier diese Sujets immer wieder verharmlost oder/und gar verherrlicht werden. Allein die beiden Kapitel „Soldatenlieder“ und „Kampflieder“ beinhalten 21 Liedtexte und machen damit knapp 40 Prozent des Buches aus. Hinzu kommt aber noch rund ein halbes Dutzend Lieder, die nicht unter diesen beiden Kapiteln aufgeführt werden, aber aufgrund ihres Inhalts ebenfalls als Soldaten- oder Kampflieder eingestuft werden könnten, z. B. „Die Wacht am Rhein“ (S. 43; in „Sing mit, Kamerad!“ taucht dieses Stück im Kapitel „Heimatlieder“ auf). Die prinzipielle rechtsextremistische bzw. neonazistische Affinität zum Themenfeld „Kampf“ kommt also auch hier zum Ausdruck.

Die intensivere Betrachtung der einzelnen Lieder auch dieses Liederbuchs offenbart dessen rechtsextremistischen, konkret neonazistischen Charakter noch klarer: Zumindest bei knapp der Hälfte lassen sich unterschiedliche Bezüge zum historischen NS oder zum bundesdeutschen Nachkriegsrechtsextremismus erkennen. Beispiele:

  1. In einigen Liedtexten ist der rechtsextremistische Inhalt völlig offensichtlich. So ist auf Seite 35 das auf 1986 datierte Lied „Über Länder, Grenzen, Zonen“ von Frank RENNICKE abgedruckt. Dessen fünfte Strophe lautet:

    „Ob Breslau, Thorn und Danzig, ob Posen, Gleiwitz und Stettin.
    Ob Chemnitz, Bromberg und Leipzig, ob Bozen, Königsberg und Wien.
    Alles sind sie deutsche Städte und liegen in deutschem Land,
    geraubt durch Verbrecherräte, geschändet jeder deutsche Stand.“

    RENNICKE erhebt hier Gebietsansprüche für Deutschland, die zwar einerseits im Grundsatz klassisch rechtsextremistisch, andererseits in ihrer Dimension jedoch selbst für rechtsextremistische Verhältnisse extrem sind: Während andere rechtsextremistische Gebietsrevisionisten sich mit einem Deutschland in den Grenzen von 1914 oder gar 1937 „bescheiden“, fordert er mit Wien und Bozen zwei Städte ein, die selbst vor 1918 nicht zum Deutschen Reich gehörten. Südtirol und damit Bozen hatte nicht einmal Adolf Hitler – aus Rücksicht auf seinen faschistischen Bündnispartner Italien – annektieren wollen.

  2. Auch „Sing mit, Kamerad!“ enthält „Wenn alle untreu werden“ (S. 12).

  3. Auf Seite 22 ist das Lied „Wir flogen jenseits der Grenzen“ abgedruckt. Es handelt sich dabei um ein nationalsozialistisches Kriegs- und Propagandalied, das im „Dritten Reich“ eigens für die „Legion Condor“ komponiert wurde. Dieser – inoffizielle – deutsche Luftwaffenverband unterstützte im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) die Falangisten.

  4. Wie auch „Stimmen der Revolution“ enthält „Sing mit, Kamerad!“ Lieder von Hans Baumann, allerdings gleich sechs (S. 9, 11, 26 und 60–62), u. a. aus den Jahren 1935, 1936 und 1938. Hinzu kommen Lieder anderer NS-Dichter wie das HJ-Marschlied „Es dröhnet der Marsch der Kolonne“ (S. 58) von Herbert Napiersky. [12]

Fazit

Das Veröffentlichen politisch-ideologischer Liederbücher mag in den 2020er Jahren aus der Zeit gefallen und altbacken wirken. Das Internet bietet mit sozialen Netzwerken, Download- und Streamingdiensten weit modernere Mittel für politische Propaganda, ideologische Indoktrination und Mitgliederwerbung. Zumal junge Menschen dürften es heutzutage gewohnt sein, ganz anders angesprochen zu werden als mit Liederbüchern, welche zudem zu einem Großteil oder ausschließlich Lieder lang vergangener Zeiten enthalten, die heutigen Hörgewohnheiten und Musikgeschmäckern nicht mehr entsprechen. Dadurch dürften sich eigentlich nur junge Menschen angesprochen fühlen, die entweder schon längst Rechtsextremisten sind – oder denen ihre westlich-moderne Gegenwart schon immer fremd und zuwider war.

Interessanter ist hier schon der konkrete Inhalt der Liederbücher, geben sie doch Auskunft über den ideologischen Horizont ihrer Macher und der dahinterstehenden Organisationen. Hier fallen vor allem zwei Dinge auf:

  1. Wo die Liederbücher rechtsextremistisches Liedgut enthalten, handelt es sich zumeist um nationalsozialistisches bzw. neonazistisches, also besonders dezidiert fanatisches Liedgut. Dass besonders eindeutig-explizite NS-Lieder wie das „Horst-Wessel-Lied“ oder „Brüder in Zechen und Gruben“ dabei ausgespart werden, dürfte im Wesentlichen juristischen Opportunitätserwägungen geschuldet sein.
  2. Der in beiden Liederbüchern auffallend hohe Anteil von Liedern, die dem Themenfeld „Kampf“ zugeordnet werden können, belegt einmal mehr, wie allgegenwärtig und wichtig die Themenkomplexe „Kampf“, „Krieg“ und allgemein „Gewalt“ in der deutschen Neonaziszene bis heute sind. Das verwundert nicht an einer Szene, für die der „Politische Soldat“ bis heute ein gängiges, wenn nicht das gängige Selbstbild ist. Dass diese Gewaltaffinität sich immer wieder in realen Gewalttaten entlädt, kommt also nicht von ungefähr.

Quellenhinweise:

  1. Vgl. beispielsweise: Steve Lizek, Hermann muss fallen. Ein politischer Zukunftsroman zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Bürgerkrieg und völkischer Selbstbehauptung, Dortmund 2020. Anonymus, Rebellische Herzen, o. O. [Weidenthal] 2020. Johannes Scharf, Das Kreuz des Südens – Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman, Gröditz 2013. 
  2. Das Emblem der JR besteht aus ihrem Kürzel, das graphisch dergestalt stilisiert ist, dass es entfernt an das Brandenburger Tor in Berlin erinnert.
  3. Vgl. zu Töben: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2008, S. 181.
  4. Vgl. zu „Der III. Weg“: Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2019, S. 168–173; Verfassungsschutzbericht Bund 2019, S. 80–83 und 99. 
  5. Aus Schillers Gedicht „Die Macht des Gesanges“. 
  6. Anfangsverse von Uhlands Gedicht „Freie Kunst“.
  7. Christian Hartmann/Thomas Vordermayer/Othmar Plöckinger/Roman Töppel (Hrsg.) (Unter Mitarbeit von Edith Raim, Pascal Trees, Angelika Reizle, Martina Seewald-Mooser), Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band II, München/Berlin 2016, S. 1167. 
  8. Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Überarbeitete Ausgabe, Frankfurt am Main 2009, S. 373.
  9. Ebd., S. 55.
  10. Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen/Zürich/Frankfurt 1970, S. 150–151. 
  11. Klee, S. 32–33.
  12. Klee, S. 387. 

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